Geschrieben am 29. Juni 2013 von für Bücher, Crimemag

Diego Gambetta: Codes of the Underworld – How Criminals Communicate

diego_gambetta_CodesoftheUnderworldRaffinierte Kommunikation

– Die Freuden der Spieltheorie, das intellektuelle Vergnügen an Codes und die Raffinesse von Kommunikation – ein spannendes Buch von Diego Gambetta, vorgestellt von Roland Oßwald.

In der Spieltheorie wurde schon früh das Modell des Gefangenendilemmas entworfen. Thomas Hobbes beschäftigt sich im „Leviathan“ 1651 bereits damit. Die Idee war somit ausgesprochen und vor allem nachlesbar. Und wie so häufig bedurfte es einiger Zeit, bis sie wiederentdeckt, gepflegt und mit größerem Aufwand weitergetrieben wurde. Vor dem Hintergrund des Kalten Krieges setzten sich Mathematiker, vor allem aus nicht kommunistischen Ländern, wieder stärker mit der Theorie auseinander, um mögliche Entscheidungen und Bewegungen der Sowjetunion vorhersagen zu können.

1944 erschien das Buch „Spieltheorie und wirtschaftliches Verhalten“ von John von Neumann und Oskar Morgenstern, die ausgehend vom Verhalten der Menschen bei Gesellschaftsspielen wie Schach, Mühle oder Dame versuchten, ein berechenbares Verhältnis zwischen Homo ludens und Homo oeconomicus abzuleiten. Albert William Tucker fügte in das Modell 1950 die Auszahlungsmatrix ein, und mit den Erweiterungen von John Forbes Nash (Nash-Equilibrium), Robert Aumann (Correlated Equilibrium, Aumann-Shapley Value) und einiger anderer Mathematiker weltweit nahm die Schule immer mehr Schwung auf. Nicht wenige Nobelpreise wurden in diesem Teilgebiet der Mathematik verliehen. Heute orientieren sich viele Regierungen, große Wirtschaftsunternehmen und vor allem Börsianer an den Modellen der Spieltheoretiker.

Prisoner’s Dilemma

Das Prisoner’s Dilemma geht von zwei Gefangenen aus, denen eine gemeinsame Straftat vorgeworfen wird, ohne dass sie die Möglichkeit haben, vor, während oder nach dem Verhör ihr Verhalten aufeinander abzustimmen. Sie werden getrennt voneinander befragt. Daraus ergeben sich mehrere Szenarien. Im ersten schweigen beide. Sie werden wahrscheinlich beide mit einem mittleren Strafmaß rechnen können. Im zweiten gestehen beide. In der Regel droht ihnen beiden daraus ein hohes Strafmaß. Und im dritten gesteht der eine, während der andere schweigt, was zur Folge hätte, dass der Geständige ein niedriges Strafmaß erwarten kann (Kronzeuge) und der Nicht-Kooperative zur Höchststrafe verurteilt wird. Die Höhe der Strafe ist hier die Auszahlungsmatrix.

Dieses Entscheidungs-Aussage-Dilemma lässt sich nicht oder so gut wie nicht bei Mitgliedern des organisierten Verbrechens anwenden, denn unter Profis besteht die unausgesprochene Übereinkunft zu schweigen. In der Welt der Berufsverbrecher wurden über Jahrhunderte hinweg alternative Kommunikationswege und unzählige Signale entwickelt, um unabhängig von der gesetzestreuen Gesellschaft handeln zu können. Vom Prinzip der Omertà hat wohl schon jeder mal gehört.

Gambettas Studie

Diego Gambetta veröffentlichte nach zehn Jahre langer Recherche 2009 ein Buch, das die Codes der Unterwelt genauer unter die Lupe nimmt. Es umfasst 327 Seiten und ist in zehn Kapitel gegliedert. Als Erstes untersucht er die Glaubwürdigkeit eines Kriminellen in seinem Arbeitsumfeld. Schön ist hier, wie Gambetta sehr genau differenziert, dass es nicht einfach reicht, einmal jemanden getötet zu haben, und schon ist die Mitgliedschaft in einem Mafia-Clan geritzt. Die Voraussetzungen der Glaubwürdigkeit als vollwertiges Mitglied einer „Familie“ sind sehr stark reguliert. Es gibt Grenzen und eigene Gesetze. Am Anfang einer Karriere stehen meistens Empfehlungen und Initialisierungsriten.

Zugehörigkeitstätowierungen (siehe z. B. Japan, Südamerika oder Russland) und Spitznamen sind leicht erkennbare Signale. Die modifizierte Sprache und der intrinsische Umgang müssen erlernt werden. Ein häufig betontes Moment im Buch ist das Mitwissen oder Teilhaben an Gesetzesverstößen, um eben im Falle der Gefangennahme nicht ins Dilemma zu fallen. Wenn in der Organisation die Vergangenheit, Taten und Familienangehörigen eines jeden Mitglieds bekannt sind, hält jeder etwas in der Hand, um einem anderen Clanmitglied bedrohlich werden zu können. Natürlich immer vor dem Hintergrund, dass alles auf Gegenseitigkeit beruht. Somit ist es für jeden Einzelnen gesünder im schlimmsten Fall zu schweigen. Eine der eindeutigsten Empfehlungen im Business ist im Gefängnis zu sitzen. Dort lassen sich am einfachsten und nachhaltigsten die Loyalität und Ehrbarkeit eines Clanangehörigen unter Beweis stellen. Freundschaften bilden sich, Tätowierungen folgen, Versprechen binden.

Blickt eine Organisation auf eine lange und erfolgreiche Geschichte zurück, haben sich häufig eindeutig zuweisbare Markenzeichen etabliert. Das beginnt bei Kleidung, Autos, Häusern, macht sich in der Wahl der Waffen und Drogen bemerkbar, und am Ende zeigt auch zum Beispiel die Verstümmelung des linken Zehs an der Leiche eines Gegners oder die Beigabe eines Fisches auf den Leichnam die Signierung eines Clans.

Lefty

Recherche

Gambetta hat für „Codes of the Underworld“ Unmengen Akten gewälzt, mit vielen Häftlingen (auch politischen), Fahndern, Richtern und Anwälten gesprochen. Er ist mehrfach nach Italien gereist, um vor Ort den verschiedenen Clans näherzukommen, und hat sich von Kollegen (er ist Professor der Soziologe in Oxford) aus den USA, Japan, Polen, Russland usw. beraten lassen.

„Codes of the Underworld – How Criminals Communicate“ ist ein soziologisches Sachbuch. Die Sprache klingt manches Mal etwas hölzern, aber das stört überhaupt nicht, weil Gambetta ganz häufig die Delinquenten selbst zu Wort kommen lässt und viel aus den Berichten von Joseph Pistone oder lokalen Zeitungsarchiven zitiert. Am meisten Spaß machen genau diese kleinen Anekdoten. Schön ist zum Beispiel eine, in der Pistone berichtet, wie Lefty Ruggiero für die Arbeit von New York nach Philadelphia fliegen soll, um dort ein paar Mitglieder aus anderen Clans in einem Hotel zu treffen. Lefty ist nicht in der Lage in ein Reisebüro zu gehen, einen Flug und ein Zimmer zu buchen und einfach rüberzufliegen.

Er muss sich erst von mehreren Bekannten für dieses Treffen empfehlen lassen, was am Ende mehrere Wochen in Anspruch nimmt. Einen öffentlichen Flug buchen und auf fremdem Terrain in einem Hotel zu wohnen, das sind beinahe unlösbare Problemstellungen. In seinem Habitat New York kann sich Lefty frei bewegen, genießt hohes Ansehen, bekommt, was er will mit einem Fingerschnippen; außerhalb der Stadt ist er wie ein Fisch an Land, unfähig die einfachsten Alltagshandlungen auszuführen, fühlt sich auffällig und unsicher. Seine Fähigkeiten scheitern in Philadelphia beinahe an den Signalen und Regulierungen im Leben der gesetzestreuen Bürger.

Er benutzt keine Kreditkarte, Sozialversicherungsausweis und ein Bankkonto nur, wenn es sich nicht umgehen lässt. Seinen Klarnamen kennen nur die wenigsten. Eine Sache steht hingegen außer Frage, wenn Lefty gefangengenommen wird, hängt er niemand hin. Er wird schweigen. Das Gefangenen-Dilemma der Spieltheorie versagt hier. Obsolet ist es deshalb noch lange nicht, schließlich glauben die Börsianer noch fest an die Theorie, und die haben ja auch was Kriminelles an sich, aber das ist ein anderes Thema.

Roland Oßwald

Diego Gambetta: Codes of the Underworld – How Criminals Communicate. Princeton University Press, 2009. 327 Seiten. 26,95 Euro. Verlagsinformation zum Buch. Foto: Wikipedia Commons, Quelle FBI.

Tags :