Kolumbien. facts.
Kolumbien = Drogen. Diese Assoziation verfestigte sich weltweit in den Köpfen allerspätestens seit Pablo Escobars Tod 1993. Die Erste Welt, allen voran die USA, ist dabei schnell mit ihren Urteilen und Handlungsanweisungen: Kolumbien muss seine Probleme in den Griff bekommen; man hilft sogar mit Waffen, Soldaten (DynCorps) und hochgiftigen Herbiziden zur Vernichtung der Kokaplantagen (Stichwort „Plan Colombia“)… Doch das Problem der Gewalt greift viel tiefer hinein in die kolumbianische Geschichte und hat andere Ursachen als den Drogenhandel. Kolumbien blickt mittlerweile auf über 50 Jahre bürgerkriegsähnliche Zustände mit wenigen Feuerpausen zurück. Und der Koka-Anbau ist vor allem eins: ein Symptom dieses Problems. Eine Interpretation von Doris Wieser
1948 wurde der liberale Präsidentschaftskandidat Jorge Eliécer Gaitán wegen seiner angekündigten Agrarreform ermordet. In der Hauptstadt kommt es zu heftigen Unruhen, dem „Bogotazo“. Das Ereignis ist Auslöser für den sich anschließenden, als „la Violencia“ (die Gewalt) bezeichneten Bürgerkrieg zwischen Liberalen und Konservativen. Im Hintergrund steht, wie so oft in Lateinamerika, ein sozialer Konflikt zwischen Grundbesitzern und Bauern, Reichen und Armen (vgl. EZLN in Mexiko oder MST in Brasilien). Die Kommunistische Partei gründete ein Jahr nach dem Bogotazo unabhängige Republiken im Land, aus deren Verteidigungstrupps später die FARC hervorging, die zurzeit größte lateinamerikanische Guerilla-Armee. Nach eigenen Angaben kämpft sie für eine revolutionäre Landreform, tatsächlich gehören zu ihren Opfern aber allzu oft gerade die Menschen, für die sie vorgeben einzutreten. Ca. 3000 Menschen werden jährlich entführt und kein Ende Violencia in Sicht. Es genügt, eine beliebige kolumbianische Tageszeitung im Internet „aufzuschlagen“ (z.B. eltiempo ) und die Schlagzeilen zu lesen: Entführungen, Anschläge, Opfer von Tretminen, Verstrickungen der Paramilitärs mit der Regierung…
Kolumbien. literatura.
Evelio Rosero (*1958, Bogotá) zeigt in seinem Roman Zwischen den Fronten (Premio Tusquets 2006) die in den Medien zu wenig präsente Seite der Misere, die Seite der leidtragenden Bevölkerung. Zwischen den Fronten, das bedeutet in Kolumbien zwischen drei Fronten. Das Land wird von drei Armeen gebeutelt, von denen keine per Waffengewalt eine Lösung herbeizuführen vermag: das Militär, verschiedene paramilitärische Truppen und die Guerilla, alle in unterschiedlicher Weise durch die Drogenmafia finanziert.
In Roseros Roman geht es um keinen einzelnen, bestimmten (Mord)Fall, keine kriminologische Ermittlung oder actionreiche Verbrecherjagd. (Wer sowas sucht, bitte ab hier nicht mehr weiterlesen.) Nur um die verzweifelte Suche eines alten Lehrers nach seiner Frau im Schusshagel des umkämpften Dorfs San José, das in einem Korridor zwischen Koka- und Guerillagebieten liegt. Gewalt beherrscht den Alltag, auch wenn sie gerade nicht physisch präsent ist. In Zeiten der Waffenruhe hängt das Damoklesschwert genauso über den Menschen und berührt ihr privates, familiäres, intimes Leben bis ins Mark: Angst um die Entführten, Angst vor neuen Gefechten, Angst selbst der nächste zu sein, all das kennen die Bewohner von San José nur zu gut.
Der Roman beginnt mit einer geradezu paradiesischen Szene. Geraldina sonnt sich nackt im Garten. Der 70-jährige Ismael Pasos, ein pensionierter Lehrer, harmloser Spanner und Ich-Erzähler des Romans, pflückt Orangen und ergötzt sich von seiner Leiter aus an Geraldinas Schönheit. Das exotische, mit Papageien, Zierfischen, Guajak- Kapok- und Chirimoyabäumen bestückte Setting wird jedoch durch schreckliche Erinnerungen zersetzt: Das Dorf wurde schon einmal überfallen und einige Mitbürger gekidnappt. Niemand weiß so recht, wer dafür verantwortlich ist, Paramilitärs oder Guerilla. Welchen Unterschied macht das schon? „Die Gesichter sind alle gleich erbarmungslos“ (S. 87), die Methoden sind dieselben, der Effekt auch: Angst, Angst, Angst. Die politischen Positionen dahinter: belanglos. Wäre es nicht besser zu vergessen? Wäre Ismael dann glücklicher? „Es gerät schließlich jeder in Vergessenheit, besonders bei den jungen Leuten, die kein Gedächtnis haben, nicht einmal, um sich an das Heute zu erinnern; deshalb sind sie fast glücklich“ (S. 24). Während um das Dorf der Guerillakrieg speit, feiert, säuft und spielt man im Dorf – noch. Was soll man auch sonst tun? Würde man damit aufhören, wäre man der Angst ausgeliefert. Die Menschen haben sich eingerichtet in der Hölle.
So lädt Hortensia Galindo einmal im Jahr das ganze Dorf zu sich ein, um ihres verschleppten Gatten (Marcos Saldarriaga) zu gedenken. Der Anlass wird mehr und mehr in ein Fest umgestaltet, auf dem man tanzt, trinkt, isst und sich vergnügt. Selbst als durch einen Brief klar wird, dass Marcos dem Tode geweiht ist, gehen die Gäste nicht, ohne vorher noch das Spanferkel zu vertilgen. Das ist Bachtin’sche Karnevalisierung erster Güte. Kurz darauf fallen die Armeen ins Dorf ein, Militärs, Paramilitärs, Guerilla, keiner macht sich die Mühe zu unterscheiden, auch der Autor nicht. Niemand ergreift Partei. Evelio Rosero deutet keine ideologische Botschaft an, sondern interessiert sich für die Folgen, das heißt dafür, wie die Leute mit Gewalt umgehen.
Das Dorf versinkt im Chaos, Granaten, Schüsse, Schreie, Blut… Alle Symbole des Paradieses werden zerstört: der Zierfischteich, die Orangenbäume („die Hälfte eines der Länge nach aufgerissenen Orangenbaums zittert noch“, S. 87), die Papageien („steif treiben sie im Swimmingpool“, S. 89). Ismael irrt durch die Straßen auf der Suche nach seiner Frau Otilia. Monate später – Otilia ist immer noch nicht zurück, das Dorf ohne fließendes Wasser, ohne Licht und unter Dauerbelagerung – kommt es zum Massenexodus. Die Dorfbewohner fliehen. Nur Ismael will nicht gehen, nur in San José glaubt er, seine Otilia wiederfinden zu können. Fast verrückt, halb dement, setzt nun für den jetzt immer häufiger lachenden Karnevalsnarren das Vergessen ein, das ihn dann doch nicht glücklicher macht.
Nur Ismaels Lachen ist ein ephemerer Sieg über die Angst, der einzige, der ihm bleibt. Indem er seinen Mördern ins Gesicht lacht, entthront er ihre Macht, ihre Autorität, ihren Ernst. Er verspottet das Grauen, den Tod, die Gewalt und besiegt sie dadurch zumindest für die Dauer des Augenblicks. Durch sein Lachen deckt er die Wahrheit über die Macht auf, er zeigt sie als das, was sie ist: Dogmatismus, Fanatismus, Naivität, Illusion, absurde Penetranz angesichts der Unmöglichkeit eines Sieges. Das Dorf San José wird zur Karnevalshölle, in der immer hemmungsloser über die nicht enden wollende Abfolge der Gewalten und Wahrheiten gelacht wird.
„Ich sitze da und lache, die Hände vors Gesicht geschlagen, hemmungslos.“ (S. 136)
Auf Tod und Gewalt folgt stets Ismaels lüsterner Blick auf einen Frauenbusen oder –schenkel. So zelebriert auch der Karneval die ewige Veränderung von Todes und Erneuerung (freudiansich: Thanatos und Eros). Die Relativität jeder Ordnung, Gewalt oder Hierarchie wird in den Blick gerückt. Auf Vernichtung folgt Erneuerung, nichts ist absolut, alles ambivalent. Schon die erste Begegnung von Ismael und Otilia in ihrer Jugend steht unter diesem Vorzeichen: Sie werden Zeugen eines Mordes auf offener Straße. Zuerst schockiert, nehmen sie das Ereignis als Vorwand für ihre Annäherung. Ismael erinnert sich: „[Ich] verknüpfte sie in meinem Gedächtnis geradezu wahnhaft: erst der Tod, dann die Nacktheit“ (S. 20).
Kolumbien. noch mehr facts.
Für seinen Roman hat Rosero nicht nur aus Zeitungs- und Fernsehberichten geschöpft, sondern selbst mit Flüchtlingen aus Dörfern wie San José gesprochen. Alle Ereignisse seines Romans seien real, nur die Personen habe er erfunden. Aus den Erzählungen der Vertriebenen stamme beispielsweise die Episode, in der ein Mann abgeschnittene Finger seiner entführten Frau und seines Kindes geschickt bekommt. Auch der Vorfall mit dem Hauptmann, der in einem Wutanfall auf die Zivilbevölkerung schießt, sei nicht erfunden.
Und wohin gehen die Vertriebenen? Ihr Schicksal ist doppelt tragisch, da in Großstädten wie Bogotá, Cartagena, Medellín oder Cali ihr Weg in die Kriminalität vorgezeichnet ist. Dort erwartet sie kein effizientes Hilfsprogramm der Regierung, sondern die Indifferenz der abgestumpften Mittelschicht, die sich an ihren Anblick gewöhnt hat. Sie beginnen zu stehlen um zu essen, der Beginn eines neuen Teufelskreises.
Poetische Sprache
Der Roman enthält wenig narratologische Kniffe wie Perspektivenwechsel, Vor- und Rückblenden oder harte Schnitte. Braucht er auch nicht. Der Leser kann sich bei dem großteils chronologisch gestalteten Plot ganz auf Roseros wunderschöne Prosa einlassen, die Matthias Strobel überzeugend ins Deutsche übertragen hat. Die Dichte der Metaphern und Vergleiche („Geraldina stieß ein Lachen aus: ein Taubenschwarm, der unvermittelt am Mauerrand aufflog.“ S. 14), die sinnverstärkende, äußerst bewusst eingesetzte Motivik in der Beschreibung des tropisch-exotischen Settings sowie des libidinösen Blicks Ismaels, lassen den Roman zu einem unwiderstehlichen Lesegenuss werden. Rosero verleiht der Darstellung von Tod und Gewalt durch seinen sanften poetischen Duktus eine ertragbare Leichtigkeit, ohne sie jedoch zu banalisieren („Aus dem Garten quillt immer mehr Rauch ins Haus, eine erstickend heiße Wurzel, die in den Flur hereinwuchert.“ S. 88). So wird der Roman selbst zur Strategie, den Schmerz durch das Schöne zu bannen und zu überwinden.
Fazit: Absolut lesenswert!
Doris Wieser
Evelio Rosero: Zwischen den Fronten (Los ejércitos, 2006). Roman. Deutsch von Matthias Strobel. Berlin: Berlin Verlag 2008. 175 Seiten. 19,90 Euro.
Dieser Roman ist auf Anhieb auf Platz 5 der neuen Welt-Empfänger-Bestenliste gelandet, die wir hiermit unserem Publikum dringend anempfehlen möchten.