Die Hymne auf das wahre Leben
Bei so viel Lob juckt es einem in den Fingern, einen Verriss zu schreiben. Wenigstens ein paar kritische Anmerkungen einzuflechten. So ein bisschen was Schlechtes zu finden. Aber wenn man nach elf Geschichten das Buch zuklappt und furchtbar enttäuscht ist, dass es schon zu Ende ist, wird es echt schwer, das mit dem Verriss. Also kein Verriss von Henrike Heiland.
Ferdinand von Schirach, Strafverteidiger in Berlin, hat elf sehr besondere Fälle aus seiner beruflichen Laufbahn herausgesucht, verfremdet und literarisch aufgearbeitet. Da bringt eine Schwester ihren Bruder aus tiefer Liebe um, ein Mann erschlägt seine Ehefrau mit der Axt, und selbst der Richter würde ihn liebend gerne freisprechen, ein Auftragsmörder kommt mit Notwehr durch, ein latent psychotischer junger Mann wird zum Kannibalen, und ein Museumswärter heilt sich selbst vom Wahn, indem er eine teure Skulptur zerschlägt. Nach richtig und falsch sucht man in den Kurzgeschichten nicht, man will das Warum erfahren, was die Leute zu Mördern, Bankräubern und Gewalttätern gemacht hat.
Von Schirachs Verdienst ist nun die Auswahl der Geschichten, die literarische Umsetzung, sprachlich wie dramaturgisch, und daran gibt es wenig zu rütteln. Sein klarer Stil und seine knappen Szenen lassen oft größere Panoramen entstehen als mancher 600-Seiten-Wälzer. Natürlich können auch gewisse Bewertungskriterien, die man normalerweise an fiktionale Werke anlegt, hier nicht so recht greifen. Handelt die Figur konsequent so, wie sie vom Autor angelegt ist? Vollkommen egal, weil die Figur ja keine reine Erfindung ist und nun mal so handelte, wie es da steht. Punkt. Ist der Handlungsverlauf zufriedenstellend? Wer will das wissen, schließlich ist es so in echt passiert. Und das Ding mit dem wahren Leben macht die logischen Brüche so spannend, die sperrigen Figuren so unheimlich interessant.
Voyeurismus
Ganz ehrlich: Wäre es eine Sammlung rein fiktionaler Erzählungen, würde man sagen: Gut, nett, mal sehen, ob er einen Roman hinbekommt. Aber es ist der Voyeurismus, der den Leser hier in nicht zu unterschätzendem Maße bei der Stange hält und Ferdinand von Schirach zu diesem Bestsellererfolg verholfen hat. Hoffentlich schreibt er keinen Roman, hoffentlich fängt er nicht an, sich etwas auszudenken, sondern sammelt noch mehr von diesen unglaublichen Geschichten aus seiner Kanzlei, von denen man oft nicht einmal in der Zeitung erfährt, und wenn, dann schon gar nicht mit der distanzlosen Intensität, mit der von Schirach die Backstorys der Täter und Opfer präsentiert. Die Distanzlosigkeit ist die eigentliche literarische Leistung hierbei. Wie der Autor die richtigen Momente der Biografien auswählt, um die Hintergründe der Taten zu beleuchten, Momente, die in Kürze alles sagen.
Ja, hoffentlich schreibt er keinen Roman, die Kurzform liegt ihm hervorragend. Der echte Dreck ist es doch, den man hier will. Elf Geschichten also, die sich in wenigen Stunden lesen lassen, und danach fühlt man sich, als hätte man mindestens elf Romane, elf Welten inhaliert. Doch, „Verbrechen“ ist gut. Angst bekommt man allerdings bei dem Gedanken, wie viele Anwälte, Richter, Schöffen oder Steuerberater durch von Schirachs Erfolg nun auf die Idee kommen werden, selbst mal aus dem Nähkästchen zu plaudern. Ach, und: schönes Cover. Das hat man ja auch nicht oft.
Henrike Heiland
Ferdinand von Schirach : Verbrechen.
München: Piper 2009. 205 Seiten. 16,95 Euro.