Der mexikanisch-amerikanische Grenzzaun in Fotografien und Klängen
Susanna Mende hat diesen beeindruckenden Fotoband durchgeblättert, innegehalten und ihm zugehört.
Schlägt man das umfangreiche Querformat auf, ist auf der ersten Doppelseite eine Landkarte mit dem Grenzverlauf zwischen den USA und Mexiko abgebildet, der sich über eine Länge von rund dreitausendzweihundert Kilometern von der Westküste der USA bei Tijuana bis nach Brownsville in Texas erstreckt, also vom Pazifik bis zum Golf von Mexiko, in leicht abfallender Linie, entlang der Staaten Kalifornien, Arizona, New Mexico und Texas auf der nordamerikanischen und Baja California, Sonora, Chihuahua, Coahuila, Nuevo León und Tamaulipas auf der mexikanischen Seite. Zwischen Tijuana und Ciudad Juarez existiert, bis auf wenige Abschnitte, ein durchgehender Zaun, der durch eine rote Linie markiert ist. Die zweite Hälfte der Grenze weist erst zum anderen Ende hin wieder längere Abschnitte mit Zäunen auf.
Die in diesem Band versammelten Fotografien des aus Kalifornien stammenden, 1949 geborenen Fotografen Richard Misrach datieren bis auf das Jahr 2006 zurück, als George W. Bush den sogenannten „Secure Fence Act“ unterzeichnete und damit grünes Licht für über 1100 Kilometer neuer Grenzzaunkonstruktionen mit Wachtürmen, Radarkontrollen, Bewegungsmeldern, Patrouillen und Drohneneinsätzen entlang der mexikanischen Grenze gab, eine Maßnahme, die von der mexikanischen Regierung und anderen lateinamerikanischen Länder scharf verurteilt wurde – jedoch ohne Erfolg. Die Kosten für die Errichtung der Zaunkonstruktion werden, je nach Gelände, auf zwischen vier und zwölf Millionen Dollar pro Meile geschätzt. Um die Grenze zu überwachen, hat die U.S. Customs and Border Protection über dreiundzwanzig Milliarden Dollar für Verträge mit der Privatwirtschaft ausgegeben – um, so die offizielle Botschaft, Drogenschmuggel und illegale Einwanderung einzudämmen.
Zweiundzwanzig Stationen, acht Cantos
An zweiundzwanzig Stationen entlang des Grenzzauns hat der Fotograf Misrach Halt gemacht und über mehrere Jahre hinweg Landschaften, Grenzstädte und deren Bewohner, Aktivitäten der Border Patrol und allerlei Objekte, die er an der Grenze entdeckt hat, fotografiert. Irgendwann fing Misrach sogar an, die überall verstreuten Gegenstände zu sammeln und sie in die Bay Area zu transportieren, wo der mexikanische Komponist Guillermo Galindo sie zu eigenen elektro-akustischen Instrumente zusammenbaute und so den Geschichten, welche die Objekte erzählen, einen musikalischen Ausdruck gab.
Allerdings rührt der Begriff des Canto im Titel nicht vom spanischen „Gesang“ her, sondern wurde von Misrach in Anlehnung an die literarischen Form des Canto gewählt, wobei der Fotograf selbst gern auf Dante Aligihieri und Ezra Pound verweist (auch wenn der Plural, „cantos“, Spanisch und nicht Lateinisch, „canti“, ist). Das führt dazu, dass wir hier eine für einen Fotoband ungewohnt streng Komposition haben:
acht Cantos mit klar umrissenen Themen, wobei die Variation des Seriellen jeden einzelnen Canto ausgesprochen spannend macht.
So versammelt zum Beispiel der erste Canto „The Wall“ unbelebte Bilder verschiedener Grenzabschnitte: mit und ohne Zaun, mit unterschiedlichen Konstruktionsformen des Zauns, mal vor beeindruckender Wüstenkulisse bei Tag oder des nachts in den von Flutlichtern erhellten Grenzabschnitten. Der dritte Canto zeigt Schießanlagen der Border Patrol, fotografiert in einem Abschnitt des Boca Chica Highway in der Nähe des Golfs von Mexiko, und der siebte, „Artefacts“, versammelt Fotos von Gegenständen, die eindeutig auf die Anwesenheit von Menschen hinweisen und Indizien für versuchte Grenzübertritte sind.
Piñata mit Patronenhülsen der Border Patrol
Der zweite Teil des Bands ist den Kompositionen von Guillermo Galindo gewidmet. Dabei stehen erst einmal die Instrumente bzw. Klanginstallationen im Vordergrund. Ihre Abbildungen rufen beim Betrachter teilweise ungläubiges Staunen hervor, stehen die einzelnen Gegenstände – Zufallsfunde, die einmal jemandem gehört haben – doch in einem starken Kontrast zu deren ausgesprochen fantasievoller „Umnutzung“. Unter jedem abgebildeten Instrument befindet sich dann ein Internetlink, unter dem man sich die Klänge, die damit erzeugt wurden, anhören kann; experimentelle, teils elektronisch verstärkte Musik von ganz eigenem Charakter, und jedes Instrument macht neugierig auf seinen ureigenen Klang, der manchmal voller Überraschungen steckt. Die Gegenstände sind hierbei die Verbindungsglieder zwischen Misrachs Fotografien und Galindos Musik, oder wie Galindo es selbst ausgedrückt hat: „Richard’s photographs have become music and my music has materialized in his images. At this point one thing cannot exist without the other.”
Es lohnt sich, diesen Fotoband mehrmals in die Hand zu nehmen, ihn sich mit und ohne Musik anzuschauen, vielleicht nur abschnittsweise, oder man ändert einfach die Reihenfolge, in der man die Cantos betrachtet. Doch egal, wie man sich dem Buch nähert: Der Zaun ist, ob nun direkt oder indirekt, in sämtlichen Bildern präsent, Misrach und Galindo legen Zeugnis ab von seiner Grausamkeit, Absurdität und Menschenverachtung, aber auch von dem Willen vieler Menschen, ihn trotz aller Hindernisse zu überwinden.
Susanna Mende
Richard Misrach und Guillermo Galindo: Border Cantos. Einführung und Epilog von Josh Kun. Aperture Foundation, New York, 2016. 270 Seiten, Format 27 cm x 34 cm.