Der Kampf des Zufalls gegen die Kausalität
Gerade ist Guillermo Martínez Roman Roderers Eröffnung erschienen, über den wir in Kürze berichten werden. Als Einstimmung darauf hat sich Doris Wieser Der langsame Tod der Luciana B. (2008) vorgenommen, und wie immer bei argentinischen Autoren lohnt sich ein Blick zu der Nationalinstitution Jorge Luis Borges und überhaupt nach Lateinamerika.
Nebenbei und vorneweg
Dass sich in den vergangenen zehn Jahren immer mehr hervorragende lateinamerikanische Kriminalromane auf dem deutschen Buchmarkt tummeln (was vor allem ein Verdienst von Thomas Wörtches metro-Reihe beim Unionsverlag war), darf nicht über die Tatsache hinwegtäuschen, dass das Genre in Lateinamerika kaum auf durchgängige Traditionslinien zurückblicken kann. In den meisten lateinamerikanischen Ländern sind Kriminalromane auch heute noch Einzelerscheinungen und bleiben als Subliteratur stigmatisiert. Oder haben Sie schon einmal etwas von einem bolivianischen, ecuadorianischen oder venezolanischen Kriminalroman gehört? Keine Sorge, es gibt sie, aber es gibt sie selten. Gerade im März erschien beispielsweise bei dem spanischen Verlag Alfaguara der neue Roman des nicaraguanischen Erfolgsautors Sergio Ramírez: ein Kriminalroman mit dem Titel El cielo llora por mí („Der Himmel weint um mich“). Wir dürfen gespannt sein, welcher deutsche Verlag ihn sich greift …
Borges: der Alte
In Argentinien gibt es immerhin seit den 1940er-Jahren etwas, das sich eine einigermaßen durchgängige Krimi-Tradition nennen darf und damit ist das Land auch schon das mit der längsten und breitesten Tradition in Lateinamerika (wenn man von den staatlich geförderten und ideologisch eindeutigen Kriminalromanen aus dem Kuba der 1970er und 80er absieht). Jorge Luis Borges und Adolfo Bioy Casares gaben von 1945–56 die Reihe El séptimo círculo heraus, in der neben zahlreichen Übersetzungen von v.a. Detektivromanen aus Europa und den USA auch erste argentinische Romane erschienen, wie El estruendo de las rosas (1948) von Manuel Peyrou. Sie machten das Genre dadurch nicht nur bekannt, sondern verliehen ihm auch die Weihen der Hochliteratur. Gleichzeitig präfigurierten die Erzählungen der beiden Autoren aus dem Band Sechs Aufgaben für Don Isidro Parodi (1942) sowie einzelne Erzählungen von Borges wie Der Tod und der Kompass und Der Garten der Pfade, die sich verzweigen die weitere Entwicklung des Genres in Argentinien. (Die Lektüre des gerade neu aufgelegten Bändchens Fiktionen von Borges sei allen hiermit ans Herz gelegt. Siehe unten).
Charakteristisch für die so initiierte Richtung der argentinischen (Kriminal)-Literatur ist es, die Handlung als Gedankenexperiment in einem abstrakten oder zumindest nicht eindeutig argentinischen Setting zu verorten. Der Bezug zu einer wie auch immer gearteten gesellschaftspolitischen Realität spielt dabei nur eine untergeordnete bis gar keine Rolle. Viel mehr geht es um das Rätsel an sich, das Problem an sich und Literatur als Vexierbild der Wahrheit. In diese Reihe gehören Pablo De Santis, aber auch der bei uns noch nicht so bekannte Guillermo Martínez.
Guillermo Martínez: der Neue
In Der langsame Tod der Luciana B. entwirft Guillermo Martínez (*1962, Bahía Blanca) ein Szenario, in dem Kausalität und Zufall so lange gegeneinander ausgespielt werden, bis sie in einer fantasmagorischen Serie von subjektiven Bildern zerschellen. Luciana B. assistiert dem Schriftsteller Kloster beim Tippen seiner Romane. Als Kloster einen Annäherungsversuch wagt, kündigt das junge Mädchen augenblicklich und verklagt ihn. Daraufhin verlässt ihn seine Frau, seine kleine Tochter stirbt bei einem Unfall. Obwohl Luciana bereits bereut, die Anklage erhoben zu haben, gibt es kein zurück mehr. Kloster zahlt, der Bruch ist endgültig. Von nun an verfolgt Luciana eine unglaubliche Pechsträhne. Ihr Freund ertrinkt, ihre Eltern sterben an einer Pilzvergiftung, ihr Bruder wird von einem Einbrecher umgebracht … Wer bleibt noch? Ihre Großmutter und ihre jüngere Schwester Valentina, die es um jeden Preis zu schützen gilt.
Luciana bittet den Ich-Erzähler (auch ein Schriftsteller, für den sie gearbeitet hat) um Hilfe. Er soll mit Kloster reden, und ihn dazu bringen, mit dem Morden aufzuhören. Aber waren es Morde oder Zufälle? Wie konnte Kloster die Todesfälle provozieren? Luciana findet Erklärungen, aber keine Beweise. Der ganze Roman ist von dieser undurchdringbaren Ungewissheit imprägniert, an der jede schweißtreibende Rationalität abperlt. Ist eine derartige Anhäufung von Zufällen plausibel? Unser Verstand (oder irgendein Urinstinkt) wehrt sich dagegen. Die Stochastik erklärt sie für möglich. Aber irgendetwas hat Kloster doch damit zu tun: Er scheint die Ereignisse in seinem Roman vorweggenommen zu haben …
Der langsame Tod der Luciana B. zeigt auf äußerst plastische Weise, dass Wahrheit immer ein Konstrukt ist, das wir über eine Realität, auf die wir keinen direkten Zugriff haben, stülpen. Die Konfrontation dessen, was Luciana dem Ich-Erzähler berichtet und was Kloster über dieselben Ereignisse zu sagen hat, zeigt mit vielen feinen Nuancen, dass Fakten nicht als solche existieren, sondern immer in einer Perspektive und einem subjektiven (auch geschlechterspezifischen) Empfinden gefangen sind. Wir können über unsere eigenen Diskurse über die Welt nicht auf die Welt zugreifen – hat uns Foucault schon ab den 1960ern gelehrt. Und so kann immer nur das wahr sein, was nach den Regeln des Diskurses wahr sein darf. Kloster, der erfolgreichste Schriftsteller des Landes, ein Vorbild für Jugendliche wie Valentina, darf kein gemeiner Mörder sein. Schriftsteller sind gebildet, rechtschaffen, moralisch integer, keine Mörder – sagt der Diskurs. Aber wer schon einmal in der Psychiatrie war, wie Luciana, ist zu allem fähig – sagt der Diskurs. Weder ihre engsten Familienangehörigen noch Polizei und Psychiater glauben ihr. Entgegen dem, was uns die US-amerikanische Kulturindustrie in Serien wie C.S.I., Numb3rs oder Bones vorgaukelt, nämlich dass die Errungenschaften der Kriminaltechnik unhintergehbare Fakten schaffen, die ein unanzweifelbarem Urteil ermöglichen, zeigt uns Martínez, dass Fakten im Grunde gar nichts aussagen, nichts über die Motive, Intentionen, Ängste und Gefühle der Menschen und schon gar nichts über die Komponente Zufall.
Die Spannung bleibt durchgängig auf angenehm hohem Niveau und Martínez glänzt durch eine agile aber unaufdringliche Erzählweise. Leider enthält der Roman einige Redundanzen, die durch das Berichten des Berichteten des Berichteten entstehen. Auch das Spiel mit der gegenseitigen Durchdringung von Fiktion und Realität liest manch einer lieber in einem von Ironie verätzten Text (wie z.B. den Romanen von Luis Fernando Veríssimo). Dieser Ton fehlt bei Martínez. Man darf auch Kersten Knipp zustimmen, der das Buch am 19.05.2008 in der FAZ besprochen hat, wenn er sagt, dass das Thema (Wahrheit als Konstrukt) nichts Neues ist. Wirklich Neues gibt es in der Literatur (wie auch in der Welt) aber äußerst selten, und so ergötzen wir uns unterdessen an der unendlichen Variation des Bekannten, und dies mit dem größten Vergnügen! Der Roman ist unbedingt lesenswert.
Doris Wieser
Guillermo Martínez: Der langsame Tod der Luciana B. (La muerte lenta de Luciana B., 2007). Roman.
Aus dem Spanischen von Angelica Ammar.
Frankfurt/M.: Eichborn 2008. 198 Seiten. 17,95 Euro.
Jorge Luis Borges: Fiktionen. (Ficciones, 1944).
Aus dem Spanischen von Karl A. Horst, Wolfgang Luchting und Gisbert Haefs.
Frankfurt/Main: Fischer (TB.) 2009. 187 Seiten. 8,95 Euro.