Geschrieben am 27. April 2010 von für Bücher, Crimemag

Guillermo Martínez: Roderers Eröffnung

Eifersucht des Klugen auf das Genie

Guillermo Martínez’ eben auf Deutsch erschienener Roman Roderers Eröffnung ist eigentlich schon alt. Er entstand ganze 15 Jahre vor Der langsame Tod der Luciana B., nämlich bereits 1992. Nach der Veröffentlichung von einigen Erzählungen brachte dieser kleine, erstaunliche Roman dem argentinischen Autor den Durchbruch. Von Doris Wieser

Er beginnt fast wie die Schachnovelle …

Der namenlose Ich-Erzähler wächst in dem kleinen verschlafenen Küstenort Puente Viejo 1300 km südlich von Buenos Aires auf. Er ist der Beste seines Jahrgangs, alles fällt ihm leicht, alles macht ihm Spaß und es steht ihm eine großartige Karriere als Geisteswissenschaftler bevor. Doch dann schlägt ihn Gustavo Roderer, der Neue, der so ganz anders tickt, im Schach. Seine Strategie wirkt konfus, er greift auf kein eingepauktes Vorwissen zurück, auf typische Eröffnungen aus Fachzeitschriften oder Enzyklopädien. Allein durch seine Genialität gelingt es ihm, den erfahrenen Gegner zu schlagen. Aber Schach interessiert ihn eigentlich gar nicht. Das ist nur ein Spiel. Roderer sucht nach der „letzten Erleuchtung“ und dafür braucht er in erster Linie eins: Zeit. Diesem Ziel opfert er einfach alles: Schule, Freizeit, Freundschaften, Mädchen … und verkriecht sich in sein Zimmer.

Die wenigen Begegnungen mit Roderer führen dem Erzähler deutlich vor Augen: Der Neuankömmling ist ihm intellektuell haushoch überlegen. „Es handelt sich um eine Art von Intelligenz, die die gewohnten geistigen Bahnen, die gängigen Argumente, alles Bekannte und Bewiesene als befremdlich oder häufig sogar als feindlich empfindet“, erklärt Lehrer Dr. Rago. Der Erzähler muss sich dagegen mit einer „assimilierenden Intelligenz“ begnügen und die Anwesenheit des Besseren ertragen. Die Eifersucht des Klugen auf das Genie ist das Kernthema des Romans, in dem ein hochintelligenter Mensch mit aller Aufrichtigkeit vor sich selbst die bedrückende Niederlage seines Ehrgeizes und Stolzes offenlegt.

Der Erzähler zieht nach Buenos Aires, studiert Mathematik, leistet seinen Militärdienst ab, wird zum Falklandkrieg eingezogen und bekommt schließlich ein Stipendium für Cambridge. In all den Jahren kann er nur einmal einen Triumph über Roderer erhaschen: Er erklärt ihm das Seldomsche Theorem, das der Autor übrigens auch in Die Pythagoras-Morde (2006) verarbeitet hat und das die Unzulänglichkeit aller philosophischen Systeme beweist. Ist Roderers Grübelei also zum Scheitern verurteilt?

… und endet fast wie Siddhartha.

Guillermo Martínez erzählt eloquent, erzeugt Spannung durch zahlreiche Leerstellen und charakterisiert seine Personen mit viel Fingerspitzengefühl und großer Schärfe, aber auch großem Ernst. Erzählerische Highlights sind die Szenen, in denen er den Charakter Roderers herausarbeitet, indem er ihn entweder Schachspielen oder über einen fiktiven literarischen Klassiker argumentieren lässt.

Die argentinischen und spanischen Feuilletons bejubelten den Roman und bezeichneten Guillermo Martínez als den vielversprechendsten Schriftsteller des Jahrzehnts. Trotzdem gibt es natürlich auch hier etwas zu meckern: Die faustischen Bestrebungen Roderers, zu begreifen, was die Welt im Innersten zusammenhält, wirken in dem abgelegenen argentinischen Küstenort unerwartet, ungewöhnlich und am Ende unglaubwürdig und überzogen. Roderer, der höchstens 25 sein kann, erblickt das Licht der Erkenntnis tatsächlich und müsste es nur noch zu Papier bringen – das hat Faust nicht einmal mit einem Teufelspakt hingekriegt und Siddhartha brauchte dafür ein ganzes Leben. Dass Roderer wegen seiner schweren Erkrankung nicht mehr dazu kommt, sich mitzuteilen, kann das Finale kaum noch retten.

Abgesehen davon bietet Roderers Eröffnung den Lesegenuss einer konzisen, auf eine einzige Handlung konzentrierten, introspektiven Novelle mit vielen prägnant formulierten, universellen Sätzen wie: „Aber die Welt ist nur ein Beispiel, die Königreiche dieser Welt sind die Königreiche des Zufalls.“

Ein paar Eckdaten zu Guillermo Martínez’ Biografie lassen vermuten, dass der Roman autobiografisch inspiriert ist. Der Autor wurde 1962 in Bahía Blanca geboren (ungefähr dort könnte auch Puente Viejo liegen). Er studierte Mathematik (wie der Erzähler), promovierte in Buenos Aires und absolvierte ein Forschungsaufenthalt (Postdoc) in Oxford (der Erzähler geht nach Cambridge). Seit 1985 lebt er in Buenos Aires. Heute ist er Schriftsteller und nicht Mathematiker. Warum er überhaupt Mathematik studiert hat, erklärt wahrscheinlich dieser Roman.

Doris Wieser

Guillermo Martínez: Roderers Eröffnung (Acerca de Roderer, 1992). Roman. Ins Deutsche übersetzt von Angelica Ammar. Eichborn Verlag 2009. 118 Seiten. 14,95 Euro.