America the Paranoid
Harlan Coben gehört zu der merkwürdigen Spezies von Autoren, über deren Qualitäten man immer verehrend munkelt und raunt. Henrike Heiland hat genauer hingeschaut …
Teenager sind ja bekanntlich die absolute Pest für Eltern. Überhaupt: Kinder, das undankbare Pack, nie sind sie so, wie man sie gerne gehabt hätte, und dann haben sie auch noch Geheimnisse vor einem. So geht es auch Tia und Mike, den Vorzeigevorstadtbewohnern im Bundesstaat New Jersey, Ostküste, USA. Sie ist Anwältin, er Arzt. Sie will nach längerer Kinderpause wieder Karriere machen, er spielt auch gerne mal eine Runde Eishockey. Bilderbuchamerikaner! Sie haben zwei Kinder, ein unglaublich wohlgeratenes Vorzeigemädchen mit Charakter und einen schweigsamen Teenagersohn, der früher auch mal vorzeigemäßig Eishockey gespielt hat, jetzt aber gerade so eine Phase durchmacht, von wegen Computer und Internet und schwarze Klamotten.
Der Problemsohn heißt Adam, und seine Eltern versuchen wirklich, ihn zu verstehen, schließlich hat sich eben erst sein bester Freund Spencer umgebracht. Aber um zu verhindern, dass sich Adam auch umbringen oder sonst wie auf die schiefe Bahn geraten könnte, kommen Mike und Tia auf eine richtig geniale Idee: Sie überwachen seinen Rechner mit einem Spionageprogramm. Fortan können sie sehen, was er wann tippt. Von wem er Mails bekommt, mit wem er was chattet. Alles liefert ihnen dieses Programm, und es dauert nicht lange, da landet die erste Schreckensnachricht auf Tias Schreibtisch: Der 16-jährige Adam hat offenbar vor, sich mit seinen Freunden so richtig wegzudröhnen. Das muss verhindert werden, schließlich ist wegdröhnen heutzutage was ganz anderes als noch vor, ähm, ein paar Jahren. Die Nachricht stellt sich dann aber verwirrenderweise als irgendwie falsch heraus, Adam verschwindet trotzdem in der Nacht. Sein Vater Mike versucht, ihn via Handy-GPS zu orten und landet ausgerechnet in der Bronx, irgendwo zwischen zwielichtigen Nachtclubs, Straßenstrich und Drogendealern, wo er prompt von Unbekannten übel zusammengeschlagen wird. Und Adam bleibt scheinbar spurlos verschwunden.
Väter und Kinder
Der Leser sieht sich schnell mit der halben Nachbarschaft von Adams Eltern konfrontiert, wo jeder so seine Probleme hat. Bei den einen braucht der Nachwuchs eine Spenderniere, aber Mike – der Nierentransplantationsspezialist ist – muss feststellen, dass der vermeintliche Vater des Kindes gar nicht der Erzeuger des Kindes ist. Ein alleinerziehender Vater leidet darunter, dass ein ansonsten sehr beliebter Lehrer seine Tochter vor der gesamten Klasse bloßgestellt hat. Die Ehe von Spencers Eltern, der kürzlich Selbstmord begangen hat, droht zu scheitern. Und so weiter. Es sind scheinbar typische, in jeder US-Krimiserie mehrfach durchgenudelte Vorstadtdramen, die sich aber, das muss man Harlan Coben lassen, am Schluss alle als wichtige Bausteine einer aufwendig konstruierten Geschichte erweisen. Keine Nebenhandlung geht ins Leere, alles hat seinen Platz, und Schuld, sofern man von Schuld sprechen kann, Schuld hat am Ende natürlich jemand, von dem man es ganz ehrlich gar nicht erwartet hätte. So gesehen schon ein ausgefuchster Thriller mit rasanten Wendungen im Drei-Seiten-Takt. Handwerklich kann man da gar nichts sagen.
Aber …
Aber. Letztlich ist es doch nur eine Geschichte über vollkommen überfütterte Vorstadtbewohner. Sie werden dekonstruiert, um zu zeigen, dass sie im Grunde auch nur armselige Würstchen sind. Das weiß man nun aber schon, und so drischt ein Klischee das nächste, um bestenfalls mit einem weiteren Klischee gebrochen zu werden. Und dann die ermüdenden Diskussionen, in denen es ums Prinzip geht. Jede Sichtweise wird ausgebreitet, durchgekaut, ausgespuckt und dann noch mal in einem anderen Licht betrachtet. Sei es nun die Frage, ob und wie Frauen Karriere und Familie vereinbaren können, oder eben das vermeintliche Hauptproblem des Buchs: Wo fängt die Privatsphäre an, und wie schnell hört sie bei Kindern und Jugendlichen wieder auf?
Adams Eltern also spionieren ihren Sohn aus. Statt das einfach mal so stehen zu lassen, wird politisch korrekt ausdiskutiert, warum es schlecht ist, warum es aber auch total wichtig ist. Darf ja keiner der Eltern irgendwie doof dastehen, Identifikationspotenzial usw. Die Moral von der Geschicht’ soll wohl sein, dass sich Adams Eltern mit dem ganzen Spionagewahn (der im Grunde ja auch nur die Fortsetzung des Heimlich-Tagebuch-und Briefe-Lesens vergangener Elterngenerationen ist) keinen Gefallen getan haben. Letztendlich aber war es dann doch wieder irgendwie okay, weil sie so einer anderen Schweinerei auf die Schliche gekommen sind. Aber dann war es auch wieder die Vernunft des gruftiemäßigen Sprösslings, die siegte, so dass man sagen kann: Ganz so falsch haben Tia und Mike ihn wohl doch nicht erzogen, auch ohne Spionagetechnik. Obwohl dann auch wieder … Na ja, um es kurz zu machen, Harlan Coben versucht nicht nur, viele Standpunkte durchzuexerzieren, er versucht auch noch, eindeutig ambivalent zu bleiben, was ja eine gute Geschichte wiederum ausmachen soll. Von wegen selbst nachdenken und Meinung bilden. Als ob.
Was fehlt, ist Emotion. Bei so viel Ausgefuchstheit, bei so vielen Klischeedrehs ist kein Platz für Stimmungen oder Atmosphären. Die Bronx, die Vorstadtidylle, alles scheint aus dünnem Papier, wie auch die Figuren und ihre Entwicklung, sofern vorhanden. Alle reden miteinander, ohne miteinander zu reden. Es ist genau die Art Nichtkommunikation des „Lass uns reden“-Amerikas, die das Vorurteil, alle Amerikaner seien oberflächlich, gefüttert hat. Charaktere am Reißbrett entworfen, ihre Geschichten mit mathematischen Berechnungen zusammengesetzt: America the Paranoid. Harlan Coben setzt dem Ganzen noch eins drauf, indem er in seinem Vorwort erklärt, dass es die von ihm beschriebene Technik bereits im Handel gibt, und dass sich sicherlich niemand davon aufhalten ließe, dass er die Handelsnamen im Buch geändert hätte. Okay, Nachspionieren ist also böse. Und das Gute siegt am Ende doch irgendwie. Und man müsste eigentlich auch mal öfter mit seinen Kindern reden, also: reden. Aber mal ehrlich, Mr. Coben, was ist da jetzt so unglaublich neu?
Henrike Heiland
Harlan Coben: Sie sehen dich. (Hold Tight, 2008) Roman.
Deutsch von Gunnar Kwisinski.
München: Goldmann 2009. 448 Seiten. 8,95 Euro.