Geschrieben am 16. Januar 2010 von für Bücher, Crimemag

James Mollison (mit Rainbow Nelson): Escobar. Der Drogenbaron

Vom Massenmörder zum Messias

Gäbe es ein Ranking der erfolgreichsten Verbrecher, nähme der Kolumbianer Pablo Escobar einen der vordersten Plätze ein. Er verschob Kokain in die ganze Welt und zählte mehrere Jahre zu den reichsten Männern der Erde. Zu seiner besten Zeit hörten ganze Brigaden von Killern auf sein Kommando, und er hat tausende von Toten zu verantworten. Der Brite James Mollison hat die Geschichte des Drogenbarons neu aufgerollt und beweist mit seinem Buch einmal mehr, dass die Wirklichkeit selbst die fantasievollsten Krimiautoren weit in den Schatten stellt, findet Eva Karnofsky.

Bereits in früher Jugend begann die kriminelle Karriere des Pablo Escobar. Mit einem Vetter klaute der Sohn eines Bauern und einer Lehrerin zunächst Grabsteine und später Autos, bis er Ende der Siebzigerjahre den Kokainhandel entdeckte. In den Bars der Ersten Welt stieg die Nachfrage nach dem Stoff, aus dem die Träume sind, und bereits Anfang der Achtziger war Pablo, wie er in seiner Heimatstadt Medellín nur heißt, ein gemachter Mann. Er konnte sich jeden Luxus leisten, von einer Riesenfarm mit einem Privatzoo exotischer Tiere über Immobilien jeder Art und Größe bis zu einer Sammlung kostbarer Oldtimer. Und er gab sich sozial, baute eine ganze Siedlung für Arme, legte in den Elendsvierteln seiner Heimatstadt Dutzende von Fußballplätzen an und verteilte Dollars, wohin er auch kam.

Killerhorden

Er wurde Abgeordneter der Liberalen Partei, denn so sicherte er sich zumindest für vier Jahre Immunität. Doch nicht sein Parlamentssitz verhalf ihm zu Macht. Mit seinen Killer-Horden zwang er Kolumbien einen Drogenkrieg auf, der bis heute nicht ausgestanden ist und insgesamt 250.000 Menschen das Leben kostete. 1984 ließ er den Justizminister ermorden und wenig später einen Präsidentschaftskandidaten, weil beide sich für die Auslieferung von Drogenhändlern an die USA stark gemacht hatten. Auch für hunderte von Entführungen zeichnete er verantwortlich. Pablo Escobar starb so spektakulär, wie er gelebt hatte: Am 3. Dezember 1993 wurde er von Sicherheitskräften erschossen, als er über die Dächer vor ihnen zu fliehen versuchte.

Kokain

Es ist bereits viel über den einstigen Chef des Kokainkartells von Medellín geschrieben worden, doch James Mollisons Porträt Escobar. Der Drogenbaron lohnt sich dennoch, und nicht nur, weil es sehr flüssig geschrieben und auch für Nicht-Kolumbien-Kenner verständlich ist. Mollison hat fleißig Quellenstudium betrieben, doch er bringt auch Neues: Er hat mit mehreren heute im Gefängnis einsitzenden Killern des Kokainkönigs, mit zahlreichen Familienangehörigen sowie mit inzwischen pensionierten Offizieren der Sicherheitskräfte gesprochen, und diese sehr freimütigen Interviews tragen dazu bei, der Person Escobar auf die Spur zu kommen. So ging er zu Beginn seiner „Karriere“ davon aus, dass das Kokain sehr bald legalisiert und sein Schmuggel-Gewerbe dann entkriminalisiert werden würde. Ein fataler Irrtum. Obendrein glaubte er sich im Recht, wenn er dekadenten Amerikanern und Europäern Kokain zuführte, und damit in seiner Heimat Arbeit und Einkommen schuf, war doch aus seiner Sicht die Erste Welt das Hauptentwicklungshindernis für Lateinamerika – eine Meinung, die so mancher Politiker des Südens zumindest insgeheim mit ihm teilte.

Kolumbien

Mollison arbeitet auch heraus, wie Escobar in Kolumbien zu einer Umkehrung sämtlicher Werte beitrug. Für viele Arme wurde der Massenmörder zum Messias, weil er ihnen half, aber auch, weil er einem Staat die Stirn bot, von dem sie sich im Stich gelassen fühlten und fühlen. Sie bewunderten an ihm, dass er es, von unten kommend, zu etwas gebracht hatte. Nach den Mitteln fragten sie nicht.

Über zwanzig Milliarden Dollar soll ihm das Kokain eingetragen haben, und einen Teil davon nutzte Escobar, um das halbe Land zu bestechen – Politiker, Verwaltungsbeamte, Polizisten, Armeeangehörige und Wirtschaftsgrößen. Kolumbien verwandelte sich in ein Land, in dem fast jeder käuflich ist, wenn nur die Summe stimmt. Werte wie Loyalität blieben auf der Strecke.

Mollison ist von Hause aus Fotograf, und so hat er sich Escobar auch über Fotos genähert, indem er diverse Archive auswertete. Das Ergebnis kann sich sehen lassen, dokumentiert das Buch doch Escobars Leben, den verheerenden Drogenkrieg und die Umkehr der Werte auch in Bildern. Das Ölgemälde, erst 2006 gemalt, das einen Escobar mit mildem Blick in einem wallenden Gewand aus dem beige-braun-olivfarbenen Stoff militärischer Tarnanzüge und mit dem die göttliche Liebe symbolisierenden, offenen Herzen Jesu zeigt, spricht eine deutliche Sprache.

Eva Karnofsky

James Mollison (mit Rainbow Nelson): Escobar. Der Drogenbaron
(The Memory of Pablo Escobar, 2007). Biografie.
Aus dem Englischen von Simone Salitter und Gunther Blank.
München: Wilhelm Heyne Verlag 2010. 416 Seiten. 16,00 Euro.

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