Der Schmerzensmann
– Spannung ist was Feines, aber die Methoden ihrer Erzeugung sind nicht immer die feinsten. Besonders störend zeigt sich das bei Jo Nesbøs neuem Roman „Die Larve“. Warum das so ist, beschreibt Ulrich Baron.
Spannend sind sie zweifellos, die Harry-Hole-Romane, aber Spannung ist nicht alles. Schließlich muss man ja auch an die Folgen denken, an kaputte Beziehungen und an die hässliche Sauferei, in die Hole immer wieder verfällt. Und an die schrecklichen Verletzungen, die Nesbøs Held sich immer wieder einfängt, sodass er bald aussehen dürfte, als sei er dem Leatherface aus Tobe Hoopers Splatter-Film „The Texas Chainsaw Massacre“ aus dem Gesicht geschnitten. Dass sich Harry Hole herabhängende Hautlappen inzwischen selbst vernäht, macht die Sache auch nicht besser, aber wahrscheinlich gäbe es andersrum nur Probleme mit der Krankenversicherung, weil er ja nicht mehr bei der Polizei von Oslo arbeitet, sondern in Hongkong und nur deshalb nach Norwegen heimgekehrt ist, weil der Sohn seiner großen, aber verlorenen Liebe Rakel wegen Mordes im Gefängnis sitzt. Wegen eines Mordes im Drogenmilieu, denn so weit ist es mit Oleg gekommen, der vor ein, zwei Romanen doch noch ein Kind war und für Hole fast wie ein Sohn. (Man darf ja auch mal sentimental sein, und ein Teil der Leserschaft erwartet das möglicherweise sogar, aber wenn schon sentimental, dann doch lieber wie in James Sallis’ „What-You-Have-Left“-Trilogie.
Doch um auf die Hautlappen zurückzukommen: Hole wird schon erwartet. Nicht nur von Rakel und Oleg, sondern auch von einem Mann mit einem Springmesser. Und gleich zu Beginn macht sich eine Rattenmutter Sorgen wegen eines toten oder beinahe toten Menschen, der ihr den Weg zu ihren hilflosen Jungen versperrt. Und man weiß ja: Bei so was kennen Rattenmütter weder Spaß noch Pardon. Die besorgte und zunächst ratlose Ratte tritt dann auch noch mehrfach auf, ohne dass sich ihr Problem gelöst hätte. Doch beim Lesen fällt langsam ein Groschen: Hatte man zunächst angenommen, der Tote oder Fasttote wäre der Typ, den Oleg umgebracht haben soll, gerät man im Verlauf des Romans doch in Zweifel und am Ende, aber das verraten wir natürlich nicht.
Gespenst
Verraten darf man immerhin, dass dieser Roman im norwegischen Original „Gjenferd“, also „Gespenst“ heißt und dass Harry Hole in seinem Osloer Hotel tatsächlich einen etwas dubiosen Zimmernachbarn hat. Dubios sind auch einige politische Machenschaften in Oslo, aber wie sollten politische Machenschaften in einem Krimi auch sonst beschaffen sein? Dann gibt es da auch noch einen norwegischen Piloten, der in Drogenschmuggel verwickelt ist. Dieser Schmuggel aber scheint plötzlich in die falsche Richtung zu laufen, und Oslos in Fixerkreisen sorgt ein Wunderstoff für Umsatz, der von einer neuen, beileibe nicht zimperlichen Organisation vertrieben wird, für die auch Oleg gearbeitet hat. So weiß man dann endlich auch, warum Harry Holes Rückkehr von manchen Leuten mit Argusaugen beobachtet wird. Diese Menschen halten einen alten östlichen Volkbrauch hoch, zu dem man einen Ziegelstein, eine Hand voll Nägel und ein menschliches Gesicht braucht. Mangels beigefügter Illustration bleibt dessen exakter Ablauf ein wenig unklar, doch das ist vielleicht gut so, denn man hat ja ohnehin längst den Eindruck, dass man ohne Studium der forensischen [[Anthropologie]], [[Odontologie]], [[Ballistik]] und [[Cetologie]] bald weder Krimis noch Thriller wird angemessen goutieren können.
Too much
Aber kurz und gut: Harry Hole ist mal wieder von Anfang an mittendrin: als Störenfried und als Zielobjekt eines Auftragskillers, als zielstrebiger Ermittler, Liebhaber, Stiefvater und als Suchtgefährdeter obendrein. Und das ist es, was einem die Spannung doch irgendwie auch verdirbt, weil die Gefahr, in der Nesbøs Held ständig schwebt, weniger als Bedrohung denn vielmehr als dessen Lebenselixier erscheint. Die Fälle, die Jo Nesbø ausspinnt, sind vor allem darauf angelegt, seinen Helden auf möglichst vielfältige Weise in lebens- und liebesbedrohenden Situationen zu bringen, und so sind hier die Effekte wichtiger als die Story. Dabei sind auch Nesbøs Stories manchmal eindrucksvoll, doch sie könnten noch viel eindrucksvoller sein und viel bessere Eindrücke hinterlassen, wenn Herr Hole sich einmal ein wenig zurückhalten könnte. Auch [[Hannibal Lecter]] war ja als gefesselte Graue Eminenz in „Roter Drache“ und noch in „Schweigen der Lämmer“ besser platziert und überzeugender denn als frei agierende Hauptfigur.

Jo Nesbø (Quelle: wikipedia)
Harry Hole aber ist der Typ, der nach einer Schädeloperation mit gefesselten Händen und Gehgips in eine Löwengrube springt und uns dabei zuruft: „Keine Bange, ich hab’ sie gleich!“ Doch am Ende muss er wieder mal genäht werden, und so fragt man sich: Muss das denn immer so ausgehen?
Nehmen wir als Gegenbeispiel [[Lee Child]]s schlagfertige Kunstfigur Jack Reacher. Der hat sich in „Outlaw“ gerade mit einer ganzen kleinen Stadt angelegt, hat mehrere Schwergewichte arbeitsunfähig geschlagen, eine Polizeiwache abgefackelt und ein halbes County in die Luft gejagt aber sieht trotzdem noch recht proper aus. Reacher nämlich folgt einer militärischen Eskalationslogik, aber schlägt nur dann zu, wenn er sich seinen Gegnern überlegen weiß. Auch bei ihm fliegen die Fetzen und sogar immer höher, doch sie fliegen irgendwie ironischer als bei Nesbøs ewigem Schmerzensmann Harry Hole. Im Gegensatz zu Hole nämlich schlägt Reacher nur dort zu, wo es ihm nicht lange weh tut. Das ist doch vernünftig, und der Spannung schadet es trotzdem nicht.
Ulrich Baron
Jo Nesbø: Die Larve. (Gjenferd, Oslo 2011). Aus dem Norwegischen von Günther Frauenlob.Ullstein. 664 Seiten. 21,99 Euro. Verlagsinformationen zum Buch.