Die zementierte Weltordnung
Haiti hat in Kettly Mars (hier bei CrimeMag) und Gary Victor (bei kaliber.38) zwei (kriminal)literarische Schwergewichte und zudem mit Graham Greene und Nick Stone (hier und hier) extrem scharfe Beobachter von außen. Kai Hensel begibt sich mit seinem neuen Roman „Sonnentau“ in illustre Gesellschaft. Und macht dabei eine gute Figur, findet Anne Kuhlmeyer.
Wenige Sekunden lang bebt die Erde und die Hölle bricht ins Paradies. Nicht, dass Haiti ein Paradies gewesen wäre. Armut, Gewalt, Korruption – das kleine Land unter der tropischen Sonne hatte auch vor der Katastrophe mit ungezählten Toten genug Probleme. Doch diese Erschütterung bewegt die Welt. Menschliches Mitleid spült 2010 Helfer und Gelder ins Land.
2013 sind die Geld- und Menschenströme fast versiegt. Hilfsprojekte stecken fest oder liegen brach. Doch Maria Brechts Schulfreundin Jooly, die verwöhnungsverwahrloste Tochter eines Schönheitschirurgen, folgt dem plötzlichen Wunsch, ihrem Leben Sinn zu verleihen, und reist von Berlin nach Haiti, um Gutes zu tun. Sie schreibt ein paar Mails, dann bricht der Kontakt ab. Kurz darauf wird Maria von Jollys Vater gebeten, seine Tochter zu suchen. Tot sei sie, ihre Leiche verschwunden. Maria hat gute Gründe, sein Geld anzunehmen und ihren Tresen in Kreuzberg gegen ein Hotelzimmer in Port-au-Prince zu tauschen. (Ihr aufbrausendes Naturell bescherte ihr eine Geldstrafe wegen Körperverletzung, die sie nicht zahlen kann.)
Maria nimmt Kontakt zur Helferszene auf. Die ist ganz einfach zu erkennen. Die Helfer sind weiß und trinken Sekt, alle anderen sind schwarz und bringen ihn. Oder leben in Slums. Gut gemeinte, sinnlose Projekte von Wohlmeinenden arrogant angestrebt, scheitern zwangsläufig.
Eine Abgeordnete des Bremer Stadtparlaments mit haitianischen Wurzeln will eine Eisenbahn quer durchs Land bauen lassen. Infrastruktur für Haiti und Arbeitsplätze für das arme Bremen. Der Fotograf, Rafael Velasco, soll sie „menschlich“, vor allem „menschlich“ ablichten fürs Image. Was nichts weiter heißen soll, als: Zeige keinem mein wirkliches Ziel. Aber nicht nur sie, jeder Beteiligte hat ein spezielles Motiv abseits von Hilfe.
Rhodes z. B. (der auch schon mal Herr Rhodes genannt wird!) baut ein Museum, dass die geologischen Zusammenhänge des Erdbebens verdeutlichen soll, um den kruden Verschwörungstheorien (von Alaska aus sei das Beben mit Hektometerwellen über weiß der Henker was für Wege gesteuert worden) entgegen zu wirken. Aufklärerisch will er wiedergutmachen. Nämlich die Millionen, die ihm aus einem Agrardeal der USA mit der haitianischen Regierung zugeflossen sind. Zu wessen Lasten, ist klar.
Mads, der Arzt, ist schon lange in Port-au-Prince. Kurz nach dem Beben impfte er Leute in den dreckigsten Slums, auf dass sie keine Seuchen heimsuchten. Ein paar starben. Was nicht weiter auffiel angesichts des hunderttausendfachen Sterbens. Er blieb. Zum Wiedergutmachen.
Craig versorgt die Leute mit Seife. Das ist besser, als zu Hause zu sein, weil ihn dort die Familie unter Druck setzt. Ein paar kleine, schmutzige Nebenbeigeschäfte sollen ihm wieder auf die Beine helfen. Craig, Rafael und Maria fahren in die Berge auf der Suche nach Joolys Leiche. Zunächst finden sie sie nicht, stattdessen viele andere …
Altruismus an sich
Die Glut, der Mangel, die Ungleichheit und die ständige Bedrohung durch Kriminalität verändern nicht nur die Haitianer. Die Helfer mit durchaus teilaltruistischem Ansinnen unterschätzen die Bedingungen in ein einem zerstörten, bitterarmen Land. Sie verändern sich. Nicht zu ihrem Besten. Und jede Figur auf ihre spezifische Weise. Dabei steht nicht nur der offensichtliche Sekundärgewinn der Entwicklungshilfe in Frage (schon allein das Wort: Geberländer!), sondern Altruismus an sich. Altruismus ohne Gewinn für den Einzelnen gibt es nicht. Das ist auch nicht nötig, solange individueller und sozialer Gewinn ausgewogen sind. Der Roman entlarvt die Verlogenheit der sogenannten Hilfe, die die Weltordnung in schwarzarm und weißreich zementiert. Der Titel „Sonnentau“ – man muss an die Moorpflanze Sonnentau denken, die ihre Beute mit klebriger Süße anlockt, um sie zu verschlingen – könnte passender nicht sein.
Kai Hensels zweiter Roman ist ein vielschichtiger, komplexer Politthriller (auf dem ruhig „Thriller“ draufstehen dürfte) über die Arroganz, die Ahnungslosigkeit und die Ignoranz der Besitzenden. Er ist genau recherchiert, bissig, böse und schonungslos. Literatur für Große!
Anne Kuhlmeyer
Kai Hensel: Sonnentau. Thriller. Frankfurt a.M.: Frankfurter Verlagsanstalt 2014. 444 Seite.17,90 Euro. Verlagsinformationen um Buch. Kai Hensel bei CulturBooks. Zur Homepage von Anne Kuhlmeyer & zum Blog.