Geschrieben am 23. Juni 2012 von für Bücher, Crimemag

Kettly Mars: Wilde Zeiten

Polit-Thriller, noir

– Auf vielen wichtigen Werken der Kriminalliteratur steht einfach „Roman“. Das ist einerseits schön und gut, andererseits irritierend, weil es einen Roman adeln kann, wenn er als das bezeichnet wird, was er auch noch ist: Ein Polit-Thriller. Thomas Wörtche über Kettly Mars‘ „Wilde Zeiten“.

Bei Polit-Thriller denkt man an John le Carré, an Eric Ambler, Ross Thomas, Robert Littell oder Jenny Siler, auf jeden Fall an die Luxusklasse innerhalb der Kriminalliteratur.  Aber ein Polit-Thriller kann auch aus Haiti kommen und eine Art Psycho-Polit-Thriller mit deutlichem roman noir Einschlag sein, was nicht nur an seiner Verwurzelung in der Frankophonie liegt.

„Wilde Zeiten“ spielt um 1962 auf Haiti. Der Diktator Papa Doc Duvalier hat nach ein paar Putschversuchen das Regime allmählich stabilisiert, seine Totschläger-Truppe, die tonton macoutes, tyrannisiert die Bevölkerung. Paranoia, Misstrauen, Terror, Folter, Willkür und nackte Gewalt prägen das politische Klima. Die USA drohen höchstens mit dem Finger, solange sich das Regime – fast in Sichtweise des Neurosenherdes Kuba – stramm antikommunistisch gebärdet. Das ist die „offizielle“ Seite der Situation, die für den Roman konstitutiv wichtig ist.  Es gibt aber auch das Leben von Menschen, das ganz genau mit der großen Lage verbunden ist. Nivrah Leroy, eine schöne Mulattin und Gattin eines Oppositionspolitikers, lässt sich mit dem Staatssekretär Raoul Vincent ein, um ihren Mann aus den Kerkern des Regimes zu retten. Oder um wenigstens sein Los zu lindern. Das ist ihr guter Vorsatz, als sie dem schwarzen Vincent gestattet, nach und nach ihr Leben zu penetrieren. Und auch das ihrer Kinder Marie und Nicolas. Als Gegenleistung gibt es Schutz und Privilegien, das Schicksal des eingekerkerten Gatten verlischt allmählich aus dem Bewusstsein der Figuren, so wie seine Tagebuchaufzeichnungen allmählich im Roman wie ein Rinnsal versickern. Kettly Mars seziert diesen Prozess der allgemeinen sittlich-moralischen und psychologischen Korruption erbarmungslos.

Kettly Mars (Quelle: wikipedia commons)

Gewalt und Impotenz

Das Arrangieren mit der Macht gestaltet sie fast diabolisch facettenreich aus … Keine Peinlichkeit, keine Verdrängungsleistung, keine menschliche Schwäche, kein Aspekt von Sexualität, die nicht nach Moral fragt, kein rassistischer Subtext bleibt unangesprochen. Die Dialektiken von Überleben und Kooperieren, von Motivation und Begründung, von Betrug und Selbstbetrug, von Illusion und Lüge, von nackter Gewalt und Impotenz, von Feigheit und Heroismus, von Geschlechterrolle und Aufbegehren – all das eskaliert Kettly Mars zu höchstem Unbehagen, für das es keine Lösungen gibt.  Keine richtigen und noch nicht einmal richtig falsche. Über allem drohen die Atavismen von Klassendenken und Rassenschranken, von Elite und Volk, von Kult, Religion und Ideologie. Alles der Willkür entworfen, durch rohe Gewalt, geduldet von der Weltöffentlichkeit. Gewalt stabilisiert zwar momentan die Situation, aber nicht die Lage. Auch das Monster Raoul Vincent, dessen Innenleben Mars beklemmend überzeugend darstellt, gerät in die Mühlen der totalitären Dynamik. Der Günstling von Papa Doc stürzt, weil divide et impera unter den Paladinen zum politischen Spiel gehört. Und damit werden die Arrangements von Nirvah hinfällig. Aus dem Psycho-Polit-Thriller wird nicht etwa einer der üblichen lateinamerikanischen und karibischen „Generalsromane“, sondern ein roman noir. Wobei sich der roman noir angesichts von Plot, setting und literarischer Inszenierung (Mars erzählt in viele Stimmen aufgefächert) einmal mehr als probate Schreibweise für komplexe Themen zeigt. Ein überraschendes Meisterwerk.

Thomas Wörtche

Kettly Mars: Wilde Zeiten (Saisons sauvage, 2010). Roman. Deutsch von Ingeborg Schmutte. Kehl: litradukt 2012. 214 Seiten. 13,80 Euro. Verlagsinformationen zum Buch.

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