Geschrieben am 20. März 2010 von für Bücher, Crimemag

Karin Alvtegen: Schuld

Schlafende Familiengeheimnisse gebären Ungeheuer

Ein psychologischer Thriller über fremde Schuld und Rache an den Falschen, neu aufgelegt, also schon fast ein Klassiker – neu gelesen von Stefan Linster.

„Sie würde ihn vollkommen in der Gewalt haben und ihn all die Schmerzen spüren lassen, die sie ertragen hatte. […]

Zuerst sollte er leiden. Dann würde sie ihn zerbrechen.“

Peter Brolin wird man leichthin als Versager abtun. Früh ohne den Heldenvater (ich sage nur Feuerwehrmann!) aufgewachsen, von der Mutter eher zurückgewiesen und auch als Erwachsener vom Leben generell gebeutelt, leidet er ohnehin schon unter schwersten Panikattacken samt Tunnelblick, Stupor und Ohnmachtsanfällen und steht nun unversehens, von seinem Steuerberater betrogen, mit 1,5 Millionen Kronen Steuerschulden da. Als er dann auch noch unter sonderbaren Umständen von einer beängstigenden Unbekannten, fortan „Dämonin“ genannt, den Auftrag erhält, deren Ehemann Olof Lundberg, einen steinreichen Werbemenschen, ein Präsent zu überbringen, wähnt Brolin sich zwar völlig dem Irrsinn nahe, kommt aber „in Ermanglung einer Alternative“, gewissermaßen als Befreiungsschlag, der Sache nach. Wie sich dabei herausstellt, ist die wirklich umwerfende Überraschung ein abgeschnittener Zeh – und besagter Ehemann schon seit Jahren Witwer!

Von da an beginnt ein mörderisches Katz-und-Maus-Spiel zwischen der tatsächlichen Dämonin (die erste war nämlich auch nur eine Strohfrau) und den beiden ungleichen Opfern einer vermeintlichen Stalkerin, mit bis auf die letzten Seiten ungewissem und verblüffendem Ausgang …

Rollen und Masken

Gewiss strapaziert auch „Schuld“, wie Jan Christian Schmidt bereits zu Alvtegens Die Flüchtige bemerkte, bisweilen recht arg die Plausibilitätsgrenzen, doch verzeiht man es der Autorin, zumindest tat ich es beide Male, weil sie den Leser eiskalt in ein ausgesprochen spannendes Verwirrspiel um Täter und Opfer stürzt, um gestörte Selbstbilder und zerrüttete Identitäten. Ohne zu viel verraten zu wollen: Nichts in dieser Geschichte ist so, wie es auf den ersten und mitunter auf den zweiten Blick scheint. Einer Geschichte über zerrissene Familien und Tabus, zerstörerische Liebe und zerstörerisches Schweigen, seelische und körperliche Krankheiten. Und natürlich über Schuld, tatsächliche wie übertragene, schwere wie schuldlose.

So ist Olof Lundberg weder das wahre Ziel der unheimlichen Belästigungen, auch wenn diese bereits sechs Monate vor Brolins Involvierung eingesetzt haben, noch trotz aller Souveränität der erwartungsgemäße „Held“ in diesem eigenartigen Gespann, das die Ereignisse zu echten Freunden zusammenschweißen lässt. Brolin nämlich wächst während der detektivischen Suche nach der Dämonin, der Auseinandersetzung mit ihr, über sich hinaus. Wiewohl das eigentliche und doch unschuldige Objekt eines pathologischen Rachefeldzugs, streift er die Rolle des sich ewig duckenden Opfers allmählich ab und findet zu verschütteten Reflexen, ungeahnten intellektuellen wie psychologischen Fähigkeiten. Lundberg und Brolin kompensieren dabei ihre wechselseitigen Schwächen und Stärken, gewissermaßen nach dem Vorbild aller erfolgreichen Ermittlerduos. So wird ihre neue Freundschaft letztlich ein Akt der Befreiung aus ihrer jeweils ganz anders gearteten Einsamkeit und existentiellen Leere.

Die Dämonin

Und auch die Dämonin ist nicht eine sondern … ja wie viele eigentlich? Sicher irre, im tatsächlich klinischen Wortsinn – über die mehrfachen, mehr als nachvollziehbaren Ursachen schweigt der Kritiker zum Erhalt der Spannung –, ja nachgerade schizophren, jedoch auf eine beinahe genialische Weise, so vermag sie buchstäblich verschiedene Identitäten anzunehmen, ihre gesamte Energie manisch nur dem einen Ziel zu widmen, der Rache am vermeintlichen Urheber ihres unzweifelhaften Unglücks.

Erfindungsreich triezt sie die beiden mit feinsinnigen „Liebesversen“, regelrecht handfeste Drohungen wie etwa: „Suche die Liebe – und du findest sie niemals/ Fliehe vor der Liebe – und sie wird dich verfolgen.“ Nutzt geschickt Schwächen aus, terrorisiert mit Einbrüchen, besprüht Hausfenster mit schwarzer Farbe … Und manipuliert die verfolgten Verfolger derart arglistig, dass sie schließlich in ihre Fallen tappen – denn um es doch anzudeuten: Wie in einem Orchesterwerk muss der Leser zunächst Trugschluss, atemberaubend spannendes Furioso und das alle Themen noch einmal aufgreifende Finale bestehen, bevor tatsächlich der befreiende Schlussakkord dieses Debütromans erklingen kann, dessen deutsche Ausgabe auch stilistisch und sprachlich überzeugt.

NB: Ursächlich schimmern hinter dem Geschehen die Versäumnisse eines omnipräsenten Wohlfahrtsstaates wie eben Schweden hervor, der in Familien- und Gesundheitsbelangen doch alles erfasst und verwaltet, dieser Datenschwemme zum Trotz seine Bürger jedoch gelegentlich allein lässt mit ihrem Schicksal, ihrer teils perniziösen Bürde, so dass manche der ohnehin Mühseligen und Beladenden sich ungeachtet aller sonstigen Bevormundung untereinander Leid zufügen. Wer wie und warum auch immer durch die Maschen des Fürsorgenetzes rutscht, den fressen womöglich die Hunde.

Stefan Linster

Karin Alvtegen: Schuld (Skuld, 1998) Roman.
Aus dem Schwedischen von Katrin Frey.
Köln: DuMont Buchverlag 2010. 240 Seiten. 8,95 Euro.

Deutsche Erstausgabe:
Karin Alvtegen: Schuld (Skuld, 1998). Roman.
Reinbeck bei Hamburg: Rowohlt 2001. 248 Seiten. 8,90 Euro.