Bücher sind wie Saftpressen
– Mindestens köstlich amüsant ist Patrícia Melos Roman „Wer lügt gewinnt“, wenn nicht gar teuflisch scharfzüngig, eine Verbindung aus der Geschichte eines bis aufs Kleinste geplanten, erst gescheiterten und dann doch noch geglückten Mordes und einer humorvollen, hochaktuellen Persiflage auf den Literaturbetrieb. Ein Klassiker-Check von Doris Wieser anlässlich der Neuausgabe des Romans.
Schlangengift
Schriftsteller und Ich-Erzähler José Guber braucht neuen Stoff für seinen nächsten Krimi, weswegen er sich an die Schlangengiftexpertin Flúvia Melissa wendet. Bald bandeln die beiden miteinander an, José fasziniert von Flúvias Wissen über tödliche Gifte und Flúvia gefesselt von Josés Kriminalromanen. Eine perfekte Beziehung oder die perfekte Grundlage für einen gemeinsamen Mord? Flúvia jedenfalls will ihren Ehemann umbringen und wirbt um Josés Unterstützung. Ihr Motiv? Ihr Mann verprügele und misshandele sie. Aber weder José noch der Leser wollen ihr das so recht abnehmen und schon gar nicht bei dem Titel, der wörtlich übersetzt „Lob der Lüge“ lautet, worin unschwer eine Anspielung auf Erasmus von Rotterdams „Lob der Torheit“ zu erkennen ist. Was also treibt Flúvia um? Will sie nur an das Geld des Ehemanns? Mit ungeheurer Kälte plant sie das Attentat mit einer hochgiftigen Jararaca bis ins Detail und erträgt mitleidslos, wie ihrem knapp mit dem Leben davongekommenen Mann ein Bein amputiert wird. Typisch Melo: Die Psyche der Figuren bleibt opak, wodurch deren Grausamkeiten noch furchtbarer wirken. Doch mit dem Mord an Ronald nicht genug der Verbrechen, Fluvia hat noch anderes in ihrem Giftschrank …

(Quelle: http://mundodascobras.blogspot.de/2011/04/jararaca-de-rabo-branco-ou-jararaquinha.html)
Plagiat
Mindestens ebenso spannend und hochgradig launig gestaltet sich auch die E-Mail-Korrespondenz von José Guber mit seinem Verleger Wilmer. José adaptiert Klassiker der (Kriminal-)Literatur und schickt Exposés an den Verlag. Nach und nach werden seine Vorschläge abgeschmettert, und zwar mit Argumenten, bei denen man jedes Mal laut loslachen möchte. Zu Camus „Der Fremde“ schreibt Wilmer: „Es ist Ihnen untersagt, Romane über verrückte Exzentriker zu schreiben, die grundlos am Strand Türken morden“ (16); zu Dostojewskis „Schuld und Sühne“: „Wer will schon was von Schuld und Sühne wissen? Wir wollen Action. Blut. Gewalt“ (45) und „Sie liefern mir als Mörder einen dummen, abgebrannten Studenten, der zu allem Überfluß auch noch Russe ist“ (46). Der profitgierige Verleger versucht immer wieder, seinen Autor auf S. S. van Dines 20 Regeln einzuschwören, denn eins ist klar: „Wir müssen die Regeln der Nordamerikaner befolgen“ (53).
Kulturindustrie
Das alles ist so amüsant, weil wir es nur zu gut kennen: „An den Mann gebracht wird allgemeines unkritisches Einverständnis“ schrieb Adorno 1977 in seinem „Résumé über Kulturindustrie“. Um die Überschwemmung des Buchmarkts mit auswechselbaren Krimis zu konstatieren, genügt ein Blick auf die Büchertische bei Hugendubel oder Thalia, wo man Mainstream über Mainstream serviert bekommt – und eben gerade nicht Patrícia Melo. Die Brasilianerin veranschaulicht aufs Feinste, wie Adornos „Kulturindustrie“, in der Kunst zur Ware degradiert wird, funktioniert: „Bücher waren für diese Leute ungefähr das gleiche wie Saftpressen, wie irgendein Haushaltsgerät, etwas Nützliches, das sofortigen Gewinn abwerfen mußte“ (108). Und dies klappt nicht nur mit Krimis, sondern auch mit Selbsthilfeliteratur, zu der José Guber alsbald überläuft. Sein erstes Werk „Reichen Sie sich selbst die Hand“, von dem der Roman einige Kostproben enthält, wird der Renner, und das geht ganz einfach: „Die Leute wollen die ,Wahrheitenʻ hören, die sie schon kennen. Und sie lieben Veränderungen, bei denen sie sich nicht von der Stelle rühren müssen“ (124). Dass Guber Plagiate über Plagiate produziert, stört nicht weiter, man muss diese Art des kongenialen Schreibens nur im nötigen größeren Zusammenhang sehen: „Sie schreiben von Jequitibá ab, Jequitibá schreibt von den Amerikanern ab, die Amerikaner von den Indern, ein endloses Borgen“ (132). Doch dann wittert José das große Thema schlechthin: das Geschäft mit dem Glauben: „Kristalle, Blüten, Tarot, chinesisches Horoskop, Azteken, Ägypter, Scientology, Runen, Numerologie, Wahrsagungen im allgemeinen, I-Ging, das altindische Bhagavadgita […], diese Idioten haben einen Wahnsinnsappetit darauf, sie sind unglaublich gefräßig, dieses Pack werden wir füttern, auf Kosten des Aberglaubens dieser Spießer werden wir Geld verdienen“ (187). In Sätzen wie diesen mag so mancher einen Seitenhieb auf Melos Landsmann Paulo Coelho erkennen, denn auch für diesen gilt: „Du bist der Feind Nummer eins der brasilianischen Intelligenzija […], du bist zum Sinnbild für Schund auserkoren worden“ (225).
Ein durch und durch heiterer und intelligenter Roman mit einer gehörigen Dosis kulturkritischer Ironie.
Doris Wieser
Patrícia Melo: Wer lügt gewinnt. (Elogio da Mentira 1998). Roman. Deutsch von Barbara Mesquita. Berlin: Wagenbach 2012. 253 Seiten 11,90 Euro. Verlagsinformationen zum Buch. Thomas Wörtche zu Melo bei Kaliber.38.