Geschrieben am 10. Oktober 2009 von für Bücher, Crimemag

Lee Child: Way out

Brutalo für Ironiker

Ein neuer Roman von Lee Child, der es endlich zum deutschen Publikum geschafft hat, ist immer Anlass zur Freude. Childs Romane sind Prototypen dafür, wie zeitgenössische Kriminalliteratur aussehen kann: intelligent, schnell, gut informiert, mit Action, Drive und Ironie. Kluge Geschichten über kluge Leute und dem Risiko einer sehr literarischen Figur. Ein Statement von Thomas Wörtche anlässlich des neues Romans: Way Out.

Überall ist etwas faul auf der Welt. Zumindest überall da, wo Jack Reacher zufällig vorbeikommt. Reacher ist die Hauptfigur in bisher zehn auf deutsch vorliegenden Romanen des britischen Autors Lee Child.

Wir wissen nicht viel von Reacher: Geboren ist er 1960, sein Bruder ist ermordet worden und familiäre Wurzeln hat er in Frankreich. Reacher war früher bei der US-Militärpolizei und ist jetzt so etwas wie ein freischaffender Troubleshooter ohne Auftrag und Mandat. Ihn als „Ermittler“ (als ob er einer der üblichen Thriller-Figuren sei) zu bezeichnen, wäre völlig daneben, auch wenn er selbst das Wort hin und wieder benutzt. Aber schließlich ist er auch ein Ironiker. Reacher treibt sich ohne jeglichen Ballast, außer seiner zusammenklappbaren Zahnbürste, herum. Geld hat er in diesem Roman noch genug auf dem Konto, das wird sich ändern im Laufe der Reihe, die mit dem im Frühjahr erschienen Gone tomorrow Angelsachsien erfreut.

Kleider werden nicht gewaschen oder gereinigt, sondern immer wieder neu gekauft. Gepäck schleppt er nicht mit sich. Reacher hat kein Problem, Leute umzubringen, wenn’s denn notwendig ist. Das tut er dann auch konsequent, sachlich, ohne emotionalen Aufwand. Er ist hochintelligent, kompetent und gewalttätig. Eine Art nicht sehr netter, nicht sehr guter Gutmensch. Reacher greift ein, wenn er auf Ungerechtigkeit stößt. Dann räumt er auf. Sein „moral-point-of-view“ ist sehr individuell und – wenn’s denn nötig ist – flexibel. Jack Reacher ist eine ironische Figur, post-modern (im nicht albernen Sinn), ab-, weil aufgeklärt – ohne Identitätskitsch und Psychoschwurbel arbeitet er sich knochenbrechend und tötend durch bisher 13 Romane.

So auch hier, in Way Out: Reacher wird Zeuge einer gescheiterten Geldübergabe bei etwas, das nach Entführung aussieht. Er will helfen, muss aber bald feststellen, dass er die Schmutzarbeit für den Chef einer Söldnerfirma erledigen soll, der abscheuliche Rachepläne gegen seine Gattin und deren Tochter hegt. Was als private Tragödie angefangen hat, bekommt peu à peu aktuelle politische Dimensionen, die Lee Child präzise, knapp und lakonisch in den Text einbaut. Und zwar so, dass sie für den Roman wesentlich werden, nicht nur Beiwerk bleiben.

Private Militärfirmen führen im Namen des Pentagons die wirklich miesen Aktionen aus; sie operieren in einer von der US-Regierung gewollten, quasi rechtsfreien Zone – töten, plündern und morden nach Belieben. Und verdienen viel Geld damit. Wen’s erwischt hat Pech gehabt, er ist ein Kollateralschaden … Child beschreibt das Schicksal eines solchen Opfers – ein Soldat, den der Schurke in einem der vielen afrikanischen Schmutzkriege lebend zurückgelassen hat, wird bei lebendigem Leib über Jahre hinweg verstümmelt und fristet ein groteskes Dasein.

Angesichts dessen und ein paar anderer Faktoren ist Reachers Seitenwechsel dann keine Überraschung. Ein politischer Kommentar sowieso.

Wen darf man umbringen?

Reachers sehr unbehagliche Reflexionen darüber, wann man wen einfach umbringen darf, testen unser Rechtsverständnis aufs Prekärste aus. Bei aller Robustheit der Handlung, bei allem suspense, der sich gerade in diesem Buch fast unerträglich behutsam aufbaut – Childs Romane stecken voller Implikationen, die man am Anfang verblüfft, dann zunehmend begeistert zur Kenntnis nimmt. Denn neben dem politischen Teil hat der Roman noch diverse andere Dimensionen: Es geht um menschliche Solidarität, um Loyalität, um Liebe und um die perversen Spiegelungen dieser Tugenden … Das ist alles in Handlung verwandelt, in Figuren und Dialog umgesetzt, nie ausformuliert, aber stets vorhanden. Deswegen kann man sich je nach Gusto eine Lesart aussuchen oder sogar mit der naivsten glücklich werden.

Wenn man so will, setzt Child seine Romane immer präzise in aktuelle Diskurse. Auch in solche der abstrakteren Art. Gerade weil Reacher ein sehr flexibler, blutbefleckter Moralist ist, ist er kein moral saint, aber auch kein radikaler Moralkritiker im Sinne Nietzsches. Denn Moral als abstrakte Kategorie steht bei Child (und Reacher) nicht an der Spitze einer Wertehierarchie, sondern im steten Dialog mit anderen Werten – z.B. mit dem, zwar moralisch diffus, aber unbehelligt und glücklich (oder unbehelligt und unglücklich) leben zu dürfen. Um in Way Out am Ende diesen Zustand für Leute herstellen zu können, die es verdient haben, ist Reacher gerne bereit, ein paar ziemlich unmoralische Dinge zu tun. Richtiges und moralisches Handeln sind nicht immer sehr kongruent. Legalität versus Legitimität, diese Debatte wird in allen Reacher-Romanen vehement geführt, verwandelt in pure action. Es geht nicht um platten Vigilantismus, sondern um viel unbehaglichere Optionen in einer immer komplexeren Welt.

Child arbeitet anti-psychologisch. Reacher scheint eine statische, coole, unbezwingbare Figur zu sein, aber er entwickelt sich, bezahlt seine Fähigkeit schnell zu denken und schnell Gewalt anzuwenden mit zunehmender Einsamkeit und schleichendem sozialen Abstieg. Wir schauen ihm nicht in den Kopf, wir sehen, wie er handelt, was er tut und manchmal, wie er kalkuliert. Und wie er sich verliebt und in wen er sich verliebt. Lee Childs Frauenfiguren sind immer „anders“, und Reachers Umgang mit Frauen ist es auch. Hier, in Way Out hat er richtig guten Sex mit einer absoluten Klassefrau „über Fünfzig“ – nicht unbedingt ein Standardhandlungsmodul (auch in der non-genre-Literatur nicht, by the way).

Zufall spielt grundsätzlich eine zentrale Rolle. Dinge passieren zufällig, Reacher ist zufällig da und bringt durch Zufall die Lebenslinien vieler Menschen in Aufruhr oder zu einem jähen Ende. Ein anderer Telos lässt sich nicht feststellen. Und damit stellt sich immer wieder die Sinnfrage – nach Reachers Tun und Handeln, nach dem Sinn menschlichen Trachtens und Treibens sowieso. Aber selten ist diese Frage so ultracool gestellt, so klar in Action umgesetzt worden.

Am Ende des Romans ist Jack Reacher verschwunden. Er hat geholfen und gerettet, Gutes getan, eine breite Blutspur und die Bösen … na ja … Aber damit ist die Welt kein bisschen besser geworden. Wir legen das Buch ungern weg und freuen uns schon auf das nächste Abenteuer.

Thomas Wörtche

Lee Child: Way Out (The Hard Way, 2006). Roman.
Deutsch von Wulf Bergner.
München: Blanvalet 2009. 448 Seiten. 19,95 Euro.

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