Dystopia in Tempelhof
Das Paradies versprechen sie alle – die Religiösen das nach dem Tode, die Ideologen das auf Erden. Aber ach … Martin Burckhardts SF-Polit-Thriller „Score“ beschäftigt sich mit der Welt von morgen, die der von heute ziemlich ähnlich sieht. Thomas Wörtche freut sich.
Die Welt im Jahr 2039. Auf dem heutigen Tempelhofer Feld steht die Zentrale von Nollet, einem globalen Game-Konzern, der auch die politische Steuerzentrale für die ECO-Zone ist. ECO bedeutet Enriched Cybernetic Organism und meint den IT-optimierten Menschen, der diese abgeschottete Zone bewohnt.
Dort scheinen alle Menschheitsprobleme gelöst, alles ist öko und bio, genetisch risikolos, nachhaltig, vernünftig, die gender-Rollen sind längst aufgelöst. Die düsteren Seiten von homo sapiens sind durch Rollenspiele in den gesellschaftlichen Kreislauf eingebunden. Wer möchte, kann sogar innerhalb eines entsprechenden Szenarios arbeiten, sich sexuell ausleben oder thrillerartige Szenarien durchleben, die oft auf Hitchcock’schen Vorlagen beruhen. Ansonsten erledigen Bots und Routinen alle anfallenden Arbeiten der täglichen Reproduktion, Medi-Bots kümmern sich um die körperliche Gesundheit, Implantate sorgen für einen stetigen Datenfluss für alle denkbaren und undenkbaren Parameter des menschlichen Lebens. Dieser livestream eignet sich, weil gespeichert, zum Nacherleben aller mögliche Situationen, man kann ihn auch mit Freunden teilen. Er gilt als nicht manipulierbar. Geld gibt es nicht mehr, die Währung in der ECO-Zone ist der „Score“: Eine Art virtuelles, dem Individuum gutgeschriebenes Punktekonto, bei dem soziale, ökonomische und soziale Werte zusammengedacht werden, die man sowohl aus „der Realität“ als auch aus Game-Situationen sammelt, die man aber auch bei entsprechendem „Fehlverhalten“ verlieren kann. Der Score gilt als absolut manipulationssicher. Mit anderen Worte: Die ECO-Zone ist eine benevolent-totalitäre Gesellschaft absoluter Kontrolle und Überwachung.
Außerhalb der Zone herrschen auch 2039 noch Chaos, Krieg, Schmutz, Armut, natürliche Fortpflanzung, Seuchen, Hunger, Religionen und Ideologien. Schurkenstaaten und Warlords. Noch sind die Grenzen durchlässig, noch gibt es Strukturen, die dem ECO-System beitreten wollen. Aber hardliner innerhalb der Festung ECO möchten das mit allen Mitteln verhindern. Irgendwie kommt uns diese Zukunft ein klein wenig bekannt vor, deswegen ersparen wir uns hier, die Parallelszenarien von „Festung Europa“ bis zur Totalüberwachung durch zu deklinieren. Burckhardt verarbeitet sie alle, so wie er auch alle klassischen Dystopien verarbeitet – die Hölle verkleidet sich schon immer als das Paradies auf Erden. In seinem Buch „Digitale Renaissance. Manifest für eine Neue Welt“ hat er die einzelnen Themen schon essayistisch reflektiert und seine skeptische Sicht der Welt und deren Zukunft artikuliert. Viele seiner Ideen finden sich in „Score“ wieder, sozusagen der Roman zum Sachbuch.
Das Grauen
Das geht aber nicht ganz auf und wäre ungerecht, weil „Score“ als Roman funktioniert.
Ein klassischer Held, zunächst Mitglied der Elite und Teil der „Social Design Planning Group“ – ja, auch soziales Verhalten wird über Algorithmen gesteuert, ganz wie im richtigen Leben-, wird umkonditioniert, um als machiavellistisches Werkzeug einer bestimmten Interessengruppe zu dienen. Das ist spannend erzählt, aber noch spannender ist Burckhardts Panorama eines „sanften“ Totalitarismus, dessen sinnvollen einzelnen Elementen man sich zunächst rational nicht entziehen kann. Und dann entkleidet der Autor dieses utopische Modell, bis es seine wahren Strukturen preisgibt: Die sind grauenhaft.
Neben den Romanen von Nathan Larson („2/14“, „Boogie Man“) und besonders Daniel Suarez’ SF/Polit-Thriller „Control“ (dazu hier) hat Burckhardt hier einen hochkomplexen, mit alle dräuenden Fragen unserer Tage – Utopien und Dystopien sind immer Romane über die Gegenwart – beschäftigten deutschen Roman auf internationalem Niveau vorgelegt. Narrativ gebunden verlieren diese abstrakten Themen ihr Bleigewicht, sie erscheinen in „Score“ ganz einfach als spannend.
Thomas Wörtche
Martin Burckhardt: Score. Roman. München: Knaus 2015. 352 Seiten. 14,99 Euro. Verlagsinformationen zum Buch.