Geschrieben am 8. Dezember 2010 von für Bücher, Litmag, Lyrik

Michael Krüger: Ins Reine

Wo der Irrtum beginnt

– Michael Krügers neue Gedichte der Ungewissheit und Unsicherheit, die einen schwer loslassen. Von Carl Wilhelm Macke

„Lyrik“, so hat es einmal Literaturnobelpreisträger Joseph Brodsky gesagt, „schult einen enorm in Unsicherheit und Ungewißheit.“ Als Motto passend zu jedem Gedichtband von Michael Krüger, Verleger und Freund von Brodsky. Nehmen wir das Titelgedicht seines neuesten Bandes als Beispiel: „Wir haben meine Kindheit nachgestellt/ mit unscheinbaren Dingen./ Einem Tannenzapfen, Brotkrumen,/ Schlüsseln, einem schwarzgeäderten Stein,/ alles, was zur Hand ist und beweglich./ Nur haben die Dinge die Neigung,/ nach eigenem Belieben zu handeln,/ und die Bahn, die ich auslegen wollte,/ neigt sich ständig vor und zurück./ Ich sehe das, was ich nicht mehr bin,/ aber ich sehe nicht mich./ Ein Apfel rollt traurig vom Tisch/ und bricht wie Wörter brechen,/ wenn man sie lang nicht benutzt./ Überlaß es den Vögeln, das Gekrakel/ ins Reine zu schreiben, auf sie ist/ Verlaß.“ Immer ist da in den Gedichten von Krüger eine kleine Geschichte verborgen. Sie wird fast in einem Erzählton angeschlagen. Hier ist es die Erinnerung an die Kindheit des Schreibenden. Handelt es sich um die Kindheit von Krüger? Es bleibt vollkommen offen. Zum Verständnis des Gedichts ist die Frage letztlich auch irrelevant. Dinge werden genannt, die den Autor, vielleicht auch den Leser an seine Kindheit erinnern. Tannenzapfen, Brotkrumen, Schlüssel, ein wunderbarer Stein. Ein Ton von fast schon romantischer Nostalgie. Aber dann wird der ruhige Erzählfluss unterbrochen. Nicht immer abrupt. Hier bleibt es nur bei einer Neigung der Bahn, auf der die Dinge eine andere als die vorgesehene Richtung einschlagen. Alles wird im Sinne von Brodsky unsicher und ungewiss. Das Ich wird sich seiner selbst fremd. „Ich sehe das, was ich nicht mehr bin,/ aber ich sehe nicht mich.“ Wörter, das Grundnahrungsmittel, das Brot jedes Dichters, brechen, rollen vom Tisch wie ein Apfel. Man findet keine Worte mehr, um die Geschichte, die Erinnerung an die Kindheit weiterzuschreiben. Und dann, zum Schluss des Gedichts folgt eine seltsame Aufforderung. Man sollte das „Gekrakel“, die schlecht, nur so rasch ins Notizbuch geschriebenen Aufzeichnungen den Vögeln überlassen. Sie würden es schon „ins Reine“ schreiben. Auf sie sei immer Verlass. Mit diesem Schluss des Titelgedichts komme ich nicht klar. Wie können Vögel eine krakelige Schrift entziffern und dann auch noch in eine reine Form übertragen? So geht es mir bei fast jedem der zuletzt erschienenen Gedichte von Michael Krüger. Es ist – fast immer – leicht, in das Gedicht einzusteigen.

In dem Gedicht „Konfirmation“ wird zunächst von einer Pfarrerin erzählt, die in ihrer Predigt gerne an Früher erinnert, zum Beispiel an die Zeit, als „alle Protestanten Nazis waren/ fast alle …/“ Dann folgt ein angedeuteter Zweifel an dem Glauben, von dem man nicht weiß, ob ein gläubiger Christ an seinem Glauben zweifelt oder ein Nichtgläubiger sich dem Glauben (wieder) annähert. „Der Herr ist oder sei mein Hirte?/ Und ich bin oder wäre das Schaf?“

Die Liebe, die Schönheit, der Tod

Michael Krüger

Wunderbar das Gedicht mit dem Titel „Das Violinkonzert von Dvoràk“. Ein Bettler hört jeden Morgen aus dem Transistorradio das Konzert von Dvoràk. Das schreibende Ich begrüßt den Bettler jeden Morgen aufs Neue und wirft auch immer eine Münze in seine Büchse. Der Bettler bittet den wohltätigen Passanten, dereinst an seinem Grab die Rede zu halten. Begraben wollte er dort sein, „wo der Irrtum beginnt … und laß bitte etwas Schönes über die Liebe fallen, ruft er mir nach, wie jeden Morgen./ Wahrhaftig, er hatte eine unanfechtbare/ Vorstellung von unserer gemeinsamen Welt“. Es gibt etwas, was den Bettelnden und den Gebenden, den Armen und den Reichen zusammenhält: die Liebe, die Schönheit, der Tod.

Man könnte noch eine Reihe an Gedichten aus diesem Band anführen, die den Lesenden schulen in Ungewissheit und Unsicherheit. Man wird mitgenommen auf Reisen nach Sofia, Leipzig, Köln. „Ich kaufe eine Zeitung, die ich nicht lesen kann,/ und teile mein Geld mit einem Zigeuner./ An jeder Ecke sehe ich mir selber zu,/ und dann beginnt das wirkliche Leben./“ (aus „Sofia, im Februar“). Was ist „das wirkliche Leben“ in Bulgarien? Das Gedicht lässt diese Frage offen. Es bleibt Ungewissheit. Erstaunlich auch bei Michael Krüger, im Brotberuf Verleger und ein urbaner Mensch vom Scheitel bis zur Sohle, die große Nähe und Empfindsamkeit gegenüber allem Leben in der Natur. Immer wieder Jahreszeiten, Tageszeiten, Wetterphänomene, Bäume und Gestrüpp, große und kleine Viecher. Aber dann auch wieder Gedichte über die Malerei, die Musik, die Dichtung. Und, der Dichter wird älter, mehren sich auch die Gedichte über das Abschiednehmen. „Bald werden andere in diesem Haus leben./ Sie werden neue Fenster einsetzen/ und einen Teppich über die Dielen legen./ Auch das Netz unterm Dach, in dem die Spinne/ den Abend belauert, darf nicht bleiben./ Keiner soll wissen, wer hier gelebt hat.“ Michael Krüger schreibt Gedichte, die den Leser „enorm verunsichern“. Und gerade deshalb kommt man von ihnen so verdammt schwer los.

Carl Wilhelm Macke

Michael Krüger: Ins Reine. Gedichte. Berlin: Suhrkamp Verlag 2010. 120 Seiten.

Ein ZEIT-Gespräch mit Michael Krüger finden Sie hier.