Zeit ist wirklich Geld
‒ Michael Lewis und sein Sachbuch-Thriller „Flash Boys“. Das größte Würfelspiel der Welt (Teil 3), von Alf Mayer.
Selten genug, dass ein Buch Aufsichtsbehörden und Staatsanwälten Stoff für Ermittlungen liefert, ja, sie unumgänglich macht. Michael Lewis ist das mit seinem Sachbuch „Flash Boys. Revolte an der Wall Street“ gelungen. Kaum war sein Sprengsatz Ende März 2014 in New York erschienen, wurde offiziell gegen eine weithin unbekannte Branche ermittelt, in der zu unserer aller Schaden wahnwitzige Billionensummen bewegt werden – von Computern, ohne jeden Einblick Außenstehender, automatisiert und gegen keinen Crash gefeit. Der Hochfrequenzhandel nähert sich der 70-Prozent-Marke aller Börsengeschäfte. Und er ist „kein fairer Handel“, wie die FAZ unlängst kommentierte.
Der Sachbuch-Thriller von Michael Lewis handelt davon, den Akteuren und Strukturen dieser Schattenwelt auf die Spur zu kommen, in der es sich auf gigantische Weise lohnt, eine Telekommunikationsleitung mit Riesenaufwand um 150 Kilometer zu verkürzen oder eine Mikrosekunde Vorsprung zu erhalten oder einen neuen, noch raffinierten Algorithmus zu entwickeln oder, dies die neueste Entwicklung, die Lasertechnik von Kampfjets einzusetzen. So wurde das High Frequency Trading zuvor noch nie durchleuchtet. Man kann nur ‒ dies eine aktuelle deutsche Parallele – hoffen, dass die jüngsten, umwerfend qualitätsvollen „Burger King“-Recherchen von „Team Wallraff“ hierzulande ebenso zu Ermittlungen und staatlichen Sanktionen führen. (Siehe unsere Rubrik „Moving Targets“).
„Kommt uns das nicht bekannt vor?“
„Die Leute, die am meisten Geld mit dem Hochfrequenzhandel verdienen, sind am wenigsten an Transparenz interessiert, das sollte uns alle beunruhigen“, sagt bei Michael Lewis ein Banker. (Das Tolle ist, bei Lewis haben solche Quellen zu 95 Prozent einen Namen, er erzählt virtuos personalisiert. Dazu gleich mehr.) „Wir schauen zurück auf die Hypothekenkrise und fragen“, sagt dieser Banker, der Kanadier Brad Katsuyama, einer der Hauptprotagonisten des Buches, „wie es sein konnte, dass Hypotheken ohne Dokumente vergeben wurden. Das ist doch absurd. Aber die Banken haben es trotzdem getan. Und heute werden Billionen Dollar auf Märkten gehandelt, in die niemand einen Einblick hat, weil sie keine Dokumente zur Verfügung stellen. Kommt uns das irgendwie bekannt vor?“
Lewis’ große, aufregende Recherche-Erzählung und sein Interesse an diesem Thema setzen mit Sergey Aleynikov ein, dem 2009 eine Freilassung gegen Kaution von der New Yorker Staatsanwaltschaft verweigert wurde. Begründung: Die von ihm für Goldman Sachs entwickelten Programme könnten sich zur Manipulation der Märkte missbrauchen lassen, wenn sie in die falschen Hände gerieten. Michael Lewis, der schon1989 ein Insiderbuch über den Lügenpoker an der Wall Street geschrieben hatte („Liar’s Poker“) las davon in der Zeitung und stutzte: Bei Goldman Sachs waren diese gefährlichen Programme in den richtigen Händen? Wenn Goldman Sachs die Märkte manipulieren könnte, dann waren doch sicher auch andere Banken dazu in der Lage. Wie kamen solche wertvollen Programme überhaupt in die Hände eines Russen, der mittellos nach New York gekommen war, erst seit zwei Jahren für Goldman Sachs arbeitete – als „Programmierer für Hochfrequenzhandel“? Was war das überhaupt? 2009 hatte selbst an der Wall Street kaum jemand von solchen Hochfrequenzgeschäften gehört. Das waren die Prämissen, mit der er zu recherchieren begann und eine ihm – dem versierten Börseninsider – unbekannte Welt betrat, die er Schicht um Schicht für uns Leser nachvollziehbar enthüllt.
Und niemand hatte auch nur die geringste Ahnung
Lewis’ generelles Interesse für die Mechanismen und Manipulationshebel der Finanzbranche begann, wie er selbst sagt, am 19. Oktober 1987, dem Schwarzen Montag, als die New Yorker Börsenkurse ins Bodenlose stürzten. Er hielt sich an diesem Tag im 40. Stock von One New York Plaza auf, in der Aktienabteilung seiner damaligen Arbeitgebers Salomon Brothers und fand es hochinteressant:
„Wenn Sie jemals einen Beweis dafür haben wollten, dass auch die Insider der Wall Street keine Ahnung haben, was an den Börsen vor sich geht, dann hätten Sie ihn an diesem Tag bekommen können. Eben noch herrschte eitel Sonnenschein, im nächsten Moment war der Dow Jones um 22,61 Prozent abgestürzt, und keiner wusste, warum. Wenn die Kurse fielen, gingen einige Händler einfach nicht mehr ans Telefon, um zu verhindern, dass ihre Kunden noch mehr Aktien auf den Markt warfen.“
Ein Ergebnis dieses Tages war, dass die Behörden nun den Einsatz von Computern an der Börse erlaubten, um die Arbeit der unzuverlässigen Mitarbeiter zu verbessern und zu ersetzen. In den nächsten 25 Jahren griff eine Entwicklung, „die ganz allmählich Fahrt aufnahm und an deren Ende der Computer den Menschen vollständig ersetzt hatte“. Michael Lewis arbeitet plastisch heraus, dass unserer aller Vorstellung nicht mit dieser gewaltigen Revolution hinter den Kulissen Schritt gehalten hat.
Finanzjournalisten – die zahnlosen Schoßhunde der Branche
Mich ärgert ja schon lange die „Börsenberichterstattung“ des Fernsehens, diese sinnlos vertane Sendezeit mit Pseudoinformationen über „Lufthansa hat um 0,2 Punkte zugelegt“, „die EZB hat wieder Geld in den Markt gepumpt“, „der Dow Jones legte heute um 4 Punkte zu“ und ähnlichem Kokolores. Michael Lewis macht in „Flash Boys“ klar, was das alles für eine geradezu arglistige Täuschung der Öffentlichkeit über das wahre Geschäftsgebaren an den Börsen ist. Auf kaum einem anderen Gebiet agiert ein derart zahnloser, dummdreist oberflächlicher „Service“-Journalismus wie in den „Finanz- und Börsennachrichten“ der Mainstreammedien. „The Watchdog Which Didn’t Bark“, heißt die schonungsloser Bestandsaufnahme des Versagens der Vierten Gewalt, in dem Dean Starkman das Versagen und Verschwinden des investigativen Journalismus im Zuge der Finanzkrise anprangert. Die Beobachtungen und Urteile lassen sich 1:1 auf Deutschland übertragen. Von wegen Wachhund. Auch in der FAZ fand sich am vergangenen Sonntag, nachdem zuvor einige Male ansatzweise kritisch über den Hochfrequenzhandel berichtet worden war, eine fast ganzseitige Entwarnung: „Keine Angst vor den Flash-Boys“. Ein Hendrik Ankenbrand verkündete dort nassforsch: „Hochfrequenzhändler zocken uns alle an der Börse ab – diese Story ruft sogar den Staatsanwalt auf den Plan. Doch sie ist falsch.“ Auf gewissen Empfängen wird dieser High-Frequenzy-Bullshitter sicher wohl gelitten sein.
Kein Interesse an Aufklärung
Die meisten Menschen, weiß Lewis, denken beim Stichwort „Börse“ nach wie vor an Bildschirme mit Kurstickern und an das Börsenparkett mit fuchtelnden und schreienden Alphamännchen. Dieses Bild aber ist veraltet, diese Welt gibt es längst nicht mehr, macht Lewis am Beispiel des amerikanischen Marktgeschehens klar. Der Kursticker, der am unteren Bildrand des Fernsehers entlangläuft, erfasst nur noch einen winzigen Bruchteil des wirklichen Börsengeschehens. „Seit 2007 schreit niemand mehr auf dem Parkett herum. An den Börsen arbeiten zwar noch Menschen, aber sie sind weder die Herren des Finanzmarkts, noch haben sie einen privilegierten Einblick in die Märkte. Heute findet der Aktienhandel in einer Black Box statt, genauer gesagt in Hochsicherheitsgebäuden in New Jersey und Chicago.“
Wie ihre willfährigen Handlanger in den Fernsehstudios haben die wenigen Menschen, die wirklich wissen, was an den Börsen läuft, „kein Interesse an unserer Aufklärung“, zieht Lewis aus vielen, vielen Gesprächen Bilanz. Was er macht, ist investigativer Journalismus, ist Sachbuch-Autorenschaft vom Feinsten. Lewis ist ein Aufklärer. Das bewies der 1960 geborene Wirtschafts- und Wissenschaftsjournalist, der ursprünglich Kunstgeschichte studiert hatte, schon in einem guten Dutzend allesamt fulminant geschriebener Bücher. (Siehe ganz unten.) Im Jahr 2010 benannte ihn Reportage-Altmeister Tom Wolfe als „einen der zwei Autoren, die es sich zu beobachten lohnt“. Der andere war Mark Bowden (Black Hawk Down. A Study of Modern War, Guests of the Ayatollah , Killing Pablo, Worm: The First Digital Wolrd War, The Finish: The Killing of Osama bin Laden).
„Niemand schreibt mit größerem Schmackes und größerer Anschaulichkeit über Geld und Finanzen als Mr. Lewis“, meinte einmal die New York Times. Der selbst hoch erfolgreiche Sachbuchautor Malcolm Gladwell (Tipping Point u. a.) verneigt sich: „I read Lewis for the same reasons I watch Tiger Woods. I’ll never play like that. But it’s good to be reminded every now and again what genius looks like.“

Autor Michael Lewis (Quelle: Campus Verlag)
„Show, don’t tell!“ – die Methodik des Michael Lewis
Wie ein Puzzle setzt Michael Lewis in „Flash Boys“ ein anderes, realeres Bild der heutigen Börsenwelt zusammen. Er macht das entlang von Personen. Die Methode, diese sozusagen dokumentarischen Protagonisten szenische Momente durchleben zu lassen, sie in Interaktion zu zeigen und dadurch komplexeste Sachverhalte sichtbar und an-schau-lich zu machen, befördert „Flash Boys“ zu einem geradezu atemlos spannenden Buch. Lewis folgt der altmodischen Erzählregel „Show, don’t tell!“. Er nimmt uns mit auf eine Entdeckungsreise. Mit den Augen eines interessierten Neuankömmlings auf einen fremden Planeten führt er uns in eine seltsame, in ihrer Logik grausame Welt – man denke an den Anfang von James Camerons „Avatar“, wo man gar nicht anders kann, als den ersten Schritten des jungen Marine zu folgen, der sich auf eine ihm in ihrer Tragweite völlig ungewisse Mission eingelassen hat.
Ein solcher Neuankömmling ist in „Kapitel 2: Brads Problem“ der Kanadier Brad Katsuyama, ein Angestellter der Royal Bank of Canada (RBC), der an der Wall Street miterlebt, wie seine Bank ab irgendwann auf mehr Computerhandel setzte, ohne davon etwas zu verstehen. Als eine aufgekaufte Firma mit angeblich modernster Technologie plötzlich niederschmetternde Ergebnisse liefert, wird ihm klar, dass andere da wohl einen technischen Vorsprung haben. Auf irgendeine unerklärliche Art. Das fuchst ihn und er entwickelt Tests, studiert den Markt, kommt auf winzigste, aber entscheidende Abweichungen. Herkömmliches Wissen taugt nicht mehr, um nachvollziehen zu können, welche Werte vom Handeln profitierten, die fallenden oder die steigenden, die „Taker“ oder die „Maker“.
Katsuyama schaut über den Gartenzaun, spricht mit anderen in anderen Firmen. Er puzzelt. Und er findet heraus, dass eigentlich alle Firmen seine Probleme haben: „Die Bildschirme bildeten den Markt nicht mehr ab. Sein Bekannter drückte eine Taste, um Aktien zu kaufen oder zu verkaufen, und der Markt veränderte sich zu seinen Ungunsten.“ Da weiß Brad, dass das alles nicht seine Schuld ist: „In diesem Moment wurde mir klar, dass die Zahlen auf den Bildschirmen, der Börsenticker, das alles, nichts als eine Fata Morgana war. Und mir war klar, dass es irgendetwas mit der Technologie zu tun hat. Die Antwort befand sich unter der Oberfläche der Technologie. Ich hatte keine Ahnung, wo. Aber ich wollte es herausfinden.“
Das geradezu Geniale, jedenfalls erzählerisch erstaunlich Anschauliche ist, dass Katsuyama tatsächlich in der Realität eine Handvoll Mitstreiter fand, die dieses Branchenrätsel sozusagen von innen aufrollten – sie sind „Die Flash Boys“. Sie enthüllen jene „Revolte an der Wall Street“ des Untertitels. Mit einem der Realität entnommenen Personal von knapp einem Dutzend Menschen enthüllt Michael Lewis uns ein ziemlich teures und wichtiges Stück Wirklichkeit. Seine Recherchen ergaben ein derart beweisträchtiges Puzzlebild so noch nicht zusammengetragener Information, dass die US-Börsenaufsicht SEC, das FBI und die New Yorker Staatsanwaltschaft ermitteln.
Alles, um 150 Kilometer Weg zu sparen
In Kapitel 1: „Unsichtbar vor aller Augen“ beschreibt Lewis, wie im Jahr 2009 zwischen Chicago und New Jersey „die geradeste Strecke, die je in die Erde gegraben wurde“ gebaut wird ‒ unter höchster Geheimhaltung, in voneinander abgeschotteten Einzelabschnitten, in 205 Teams, ohne jemanden ein Gesamtbild haben zu lassen. Tunnel wurden durch Berge gesprengt, durch eisenharten Kalkstein gebohrt, der sich Blaustein nennt, Röhren unter Flüsse verlegt, Gräben neben Landstraßen ausgehoben, keine Mühe gescheut. Alles hatte den Anschein von supergeheimstem Regierungsprojekt, aber es war ein Privatunternehmen mit einem großen Plan. Alles, um eine fünf Zentimeter starke Plastikröhre, in der 400 haarfeine Glasfaserröhren nebeneinander lagen, auf einer schnurgeraden Linie unter die Erde zu bringen. Am Ende waren gegenüber der normalen Leitung der Telekommunikationsunternehmen 150 km Weg eingespart. Ein unschätzbarer Vorsprung. Wahnsinnssummen wert.
Vor 2007 war der Handel nicht schneller als die Menschen, die ihn betrieben. Die neue Geschwindigkeit war die, mit der ein elektronisches Signal von Chicago nach New York kommt, genauer: vom Rechenzentrum der Chicago Mercantile Exchange zu einem Rechenzentrum der 1971 gegründeten Börse NASDAQ, in Carteret, New Jersey, der größten elektronischen Börse der USA mit dem vollen Namen National Association of Securities Dealers Automated Quotations. Zwölf Millisekunden, zwölf Tausendstel einer Sekunde, braucht das Licht, um sich in einem der neuen Glasfaserkabel von Chicago nach New York und zurück zu bewegen. Bei den normalen Telefonanbietern wie AT&T oder Verizon war solch ein Signal deutlich länger unterwegs, 16 oder 17 Millisekunden meist. Verizon hatte eine Leitung, die nur 14,65 Tausendstel benötige, die Händler nannten sie „die goldene Straße“, denn wenn sie zufällig auf dieser Leitung orderten, konnten sie die Preisunterschiede zwischen Chicago und New York als Erste nutzen.
Verizon aber hatte keine Ahnung, dass man diese schnelle Leitung den Händlern für fast jeden Betrag hätte vermieten können. Man musste mehrere Leitungen zeitgleich mieten und hoffen, dass die Rennstrecke dabei war. Lewis fasst das so zusammen: „In den Telefongesellschaften hatte man 2008 noch nicht mitbekommen, dass die Millisekunde an den Finanzmärkten ein Vermögen wert war.“
Warren Ellis hat daraus in „Gun Machine“ einen erstaunlichen Thriller gemacht, in dem für einen solchen Standort- und Leitungsvorteil gemordet wird. (Siehe dazu „Das größte Würfelspiel der Welt, Teil 2“ bei CrimeMag, mit vielen weiteren Informationen zum Hochfrequenzhandel.) Tatsächlich gab und gibt es in New York einen „Nähe-Service“, der mit seiner Leitungsnähe zur Börse Geld scheffelt.
„Wir haben 200 Schaufeln für 400 Arbeiter“
Larry Tabb, der mit einem Artikel über den „Wert der Millisekunde“ kaum Aufsehen erregt hatte, weil das als esoterisches Thema galt, wurde von den Erdwühlern als Berater angeheuert (mehr hier). Er konnte den Marktpreis der neuen Leitung beziffern. Ungefähr. Für die Ausnutzung der Kursdifferenzen zwischen New York und Chicago kam er auf einen Gewinn von etwa 20 Milliarden Dollar pro Jahr. Etwa 400 Unternehmen, so schätzte er, würden um diese 20 Milliarden kämpfen, doch das neue Kabel würde nur 200 von ihnen Platz bieten. „Wir haben 200 Schaufeln für 400 Arbeiter“, übersetzten das die Kabelinvestoren von Spread Network, wie sich das Unternehmen nannte (auf das ich hier nicht eingehen kann, auch dies ultraspannend). Eine Monatsgebühr von 300.000 Dollar, das Zehnfache der normalen Telefonverbindungen, wurde ermittelt und verkauft. 14 Millionen kostete inklusive der notwendigen Verstärker ein Fünfjahresvertrag. Insgesamt 2,8 Milliarden Dollar kamen so zusammen. Zeit ist wirklich Geld.
Vor allem die Latenzzeit. Das ist jene Zeit, die es braucht, bis ein Signal beim Empfänger eingeht. Das hängt von der Art der Leitung, der Entfernung und den Geräten ab, von Servern, Verstärkern, Verteilern, sowie der Logik der Software. An der arbeiteten Geeks wie Sergey Aleynikov, erstaunlich viele Russen, fast ein Schachthema die Sache mit den Algorithmen, mit den Programmen, die sich den ultrafeinen Zeitvorsprung zunutze machen und als Erste den Spieltisch abräumen können. Meist in kleinsten Portionen. Mikrobeträge, die sich wegen der gewaltigen, automatisch bewältigten Transaktionen zu Milliardensummen akkumulieren.
Bis heute das falsche Zeitmaß – Sekunden gegen Millionstelsekunden
Diesen Teil des Buches von Michael Lewis verkürze ich hier. Eindringlich ist bei ihm, wie der Manager eines 9-Milliarden-Dollar-Hedgefonds zu einem der Protagonisten mit einem 300-Millionen-Dollar-Problem kommt. „Will heißen, dass er pro Jahr 300 Millionen verlor, weil er nicht zu den auf den Bildschirmen sichtbaren Preisen handeln konnte.“ Bis Ende 2010 hatten die „Flash Boys“ mit über 500 hochprofessionellen Aktienhändlern gesprochen, die zusammen Billionen bewegten. „Selbst die raffiniertesten Investoren hatten keine Ahnung, was auf ihrem eigenen Markt vor sich ging“, summiert Lewis. „Es passiert in so winzigen Maßstäben, dass man es sich nicht mehr vorstellen kann. Die Leute werden gemolken, weil sie nicht in Millionstelsekunden denken können.“ Sie alle hatten unerklärliche Verluste, aber keine Erklärung.
Erst recht nicht die Börsenaufsicht, die den „Flash Crash“ vom 6. Mai 2010, 2:45 Uhr, untersuchte, als der Markt urplötzlich um 600 Punkte abstürzte. Eine einzige Order aus Kansas City, hieß es fünf Monate später in dem SEC-Bericht, sei dafür verantwortlich gewesen. Lewis kann da nur lachen, denn die Aufsichtsbehörde SEC (Securities and Exchange Commission) oder das FBI verfügte (und verfügt) gar nicht über die Instrumente, um solche Vorgänge nachvollziehen zu können. Die SEC-Berichte bilden die Börse bis heute im Sekundentakt ab, doch die Sekunde hat eine Million Mikrosekunden. Lewis vergleicht das mit Aufzeichnungen aus den 1920ern. Übertragen würde das bedeuten, dass man sage könnte, innerhalb dieses Jahrzehnts habe es irgendwann einmal einen Börsencrash gegeben, aber den 29. Oktober 1929 könne man daraus nicht abbilden. Mit keinem einzigen Detail. Keiner einzigen Erkenntnis.
Die Deutsche Bank hatte den „Schnippler“
Die neuen Programme der Hochfrequenzhändler, die vollautomatisiert und in einer einem Menschen nicht zugänglichen Zeitzone operieren, wurden und werden in Prospekten beschrieben als „Tiger, der im Dschungel auf Beute lauert“ oder als „Python im Geäst“, sie trugen und tragen Namen wie „Ambush“ (Hinterhalt“, „Nighthawk“ (Nachtfalke), „Raider“ (Räuber), „Dark Attack“, „Dagger“ (Dolch), die Deutsche Bank hatte einen „Slicer“ (Schnippler), die Credit Suisse den „Guerilla“.
Zu den großen Profiteuren des Hochfrequenzhandels gehört die nun peinlich durchleuchtete Firma Virtu Financial, einer der größten Flash-Trader. Ein Unternehmen, das nach eigenen stolzen Angaben in fünfeinhalb Jahren nur einmal Verlust gemacht hat – dies „durch menschliches Versagen“.
Noch die Fußnoten von Lewis sind eine Fundgrube. Auf Seite 188 zum Beispiel erklärt er, dass sich der Wert der Millionstelsekunden auch an der Flächengröße der Börsen messen lässt, obwohl die Parkettsäle weggefallen sind. Das alte Gebäude der New York Stock Exchange an der Ecke Wall und Broad Street etwa umfasste 4300 Quadratmeter, das neue Rechenzentrum in Mahwah, New Jersey, hat eine Fläche von 37.000 Quadratmetern.
- Nach jüngsten Schätzungen, so Lewis, verdienten die Großbanken der Wall Street 2013 alleine an den Transaktionsgebühren zwischen 9,3 und 13 Milliarden Dollar. Dabei erhaschen sie nur ein kleines Kuchenstück des großen Geschäfts.
- 45 private Handelsplätze gibt es derzeit, an denen die High Frequency Trader herrschen, in 44 hat niemand einen Einblick. Es gibt keine Kontrolle. Und die Börsenaufsicht muss eh erst aufrüsten. Ein Hase-und-Igel-Spiel, währenddessen die ganze Zeit, jede Millisekunde, BILLIONEN bewegt werden.
Der große schwarze Schatten des nächsten Crashs
In der Dark Pool Arbitrage an der neuen US-Börse IEX stecken die Flash-Trader 85 Prozent der Gewinne ein, die Banken nur 15. Wenn das System zusammenbricht, so warnt Michael Lewis, werden die unreglementierten Flash-Trader aber nicht 85 Prozent der Schuld übernehmen. Das bleibe alles an den Banken und damit an den Steuerzahlern hängen. Was dem Publikum auch hierzulande als Bankenregulierung verkauft wird, ist Augenwischerei, macht die Lewis-Lektüre klar. Die skrupellosen Haie sind größer, wilder, gieriger und gefährlicher denn je. Ein Wahnsinnskrimi, den Michael Lewis uns serviert. Und es ist – die Wirklichkeit.
PS. Ein Kompliment verdient die Übersetzung von Jürgen Neubauer, in der für tausendfaches Denglisch anfälligen Finanzwelt setzt er die richtigen Begrifflichkeiten und sorgt für größtmögliche Verständlichkeit, keine geringe Kunst, zumal der erzählerische Stil des Ganzen unter all dieser Info-Last nicht leidet. Zur generellen Lesbarkeit von Michael Lewis kommt eine geschmeidige Übertragung dazu. Auch optisch macht das im Campus Verlag erschienene Buch etwas her, der auch schon die letzten Lewis-Titel vorbildlich betreut herausgebracht hat. Der schwarze Schmutztitel setzt sich in den schwarzen Kapitelvorsätzen fort, das Papier hat eine angenehme Textur. Das E-Book ist inbegriffen, ein Gutscheincode führt zur Freischaltung. Einziger Kritikpunkt dieses in jeder Hinsicht kompetenten Unternehmens: Nach nur einmaligen Lesen, und ich bin ein sehr zärtlicher Leser, hat sich der Buchrücken einfach vom einmaligen Aufschlagen her schon schief gelegt. Da hat die Bindung ein kleines Investmentproblem.
Alf Mayer
Michael Lewis: Flash Boys. Revolte an der Wall Street (Flash Boys. A Wall Street Revolt). Roman. Aus dem Englischen von Jürgen Neubauer. Frankfurt am Main: Campus Verlag 2014. 288 Seiten. 24,99 Euro inklusive E-Book. Verlagsinformatioenen zum Buch. Mehr zu Michael Lewis.
Siehe auch:
Das größte Würfelspiel der Welt (Teil 1): Ross Thomas und sein Börsenthriller „Fette Ernte“, nebst einigen Kontexten, von Alf Mayer.
Das größte Würfelspiel der Welt (Teil 2). Der Thriller „Gun Machine“ von Warren Ellis, noch einmal gelesen …Die Bücher von Michael Lewis (Auswahl):
Liar’s Poker. Rising through the Wreckage on Wall Street (1989, dt. Wall Street Poker)
Pacific Rift (1991)
The Money Culture ( 1991, dt. Geldrausch)
Trail Fever: Spin Doctors, Rented Strangers, Thumb Wrestlers, Toe Suckers, Grizzly Bears, and Other Creatures on the Road to the White House (1997)
Losers: The Road to Everyplace but the White House (1998)
The New New Thing. A Silicon Valley Story (2000, dt. Alle Macht dem Neuen)
Next: The Future Just Happened (2001)
Moneyball: The Art Of Winning An Unfair Game (2003)
The Blind Side: Evolution Of A Game (2006)
Panic. The Story Of Modern Financial Insanity (2008)
The Real Price of Everything: Rediscovering the Six Classics of Economics (als Hrsg., 2008).
Home Game: An Accidental Guide To Fatherhood (2009)
The Big Short. Inside The Doomsday Machine (2010, dt. The Big Short. Wie eine Handvoll Trader die Welt verzockte, Campus Verlag) Eine ausführliche Reportage über die Hintergründe der Immobilienkrise von 2007, die zum Zusammenbruch der Großbank Lehman Brothers und zur weltweiten Wirtschaftskrise führte.
Boomerang: Travels in the New Third World (2011, dt. Boomerang. Europas harte Landung. Campus Verlag),
Flash Boys. A Wall Street Revolt (2014, dt. Flash Boys – Revolte an der Wall Street. Campus Verlag