Verbrechen kennt keine Ideologie
– „Wenn du auf die Welt kommst, greift ein Engel nach der Geige und spielt eine Melodie, nach der du dein Leben lang tanzen wirst. Immer dasselbe Lied. Bei deinen Geschäften, deinen Freunden, bei allem. […]. Der Geige des Engels entkommt keiner“ (S. 126).
Zu allen Zeiten gibt es Verbrechen, in demokratischen Ländern genauso wie in sozialistischen oder in Diktaturen. Verbrecher finden immer und überall ihre Nische, arrangieren sich mit Polizei, Militär, Wirtschaftsbossen und Funktionären und scheren sich meist reichlich wenig um politische Ideologien oder ethische Werte; Hauptsache das Geschäft läuft. So kann der Polaco in Raúl Argemís zweitem Roman, „Und der Engel spielt dein Lied“, im Argentinien der guerra sucia dieselben Dinger drehen wie acht Jahre später in der Demokratie. Doris Wieser mit einem Nachschlag zur Argentinien-Messe …
Der 1946 in La Plata geborene Autor erzählt glaubwürdig und kenntnisreich, wie eine kleine Verbrecherorganisation tickt, wenn sie gezwungen ist, sich mit verschiedenen politischen Systemen zu arrangieren: Dies gelingt, weil es Verbrecherregeln mit universeller Gültigkeit gibt. Das wissen wir aus unzähligen literarischen und filmischen Beispielen. Wer sich nicht an sie hält, wird umgelegt. Eigentlich nichts Neues. Aber weil das menschliche Verhalten so vielschichtig ist und der Einzelne immer wieder daran glaubt, diesen Regeln entkommen zu können, bleiben die menschlichen Irrungen und Wirrungen spannend für Literatur und Film, obwohl sie doch nur Facetten desselben Endes zeigen.
Der weit abseits vom Großstadtsumpf aufgewachsene Negro gilt bei seinem Boss, genannt der Polaco (der Pole), als der richtige Mann für heikle Aufträge in Argentiniens Süden. Er kennt die Topographie Patagoniens, Schleichwege und Abkürzungen, und macht seine Arbeit gut, weil er exakt plant und in schwierigen Situationen nie die Kontrolle verliert. Sein Chef, ein erfahrener wie vorsichtiger Mafioso, weiß genau, wie weit man in diesem Geschäft gehen kann, ohne eine Kugel in den Kopf gejagt zu bekommen. Immer ein bisschen schlauer und gewitzter als El Negro, stellt er seine Überlegenheit wiederholt im Dominospiel unter Beweis. Fairplay oder nicht? – Wer weiß? Nur der Sieg zählt. Doch der Verlierer, El Negro, wird ihm schon noch zeigen, was er kann. Er soll vier Lieferwagen bepackt mit Drogen über die chilenische Grenze lotsen. Eigentlich ganz einfach, zumal die Grenzbeamten eingeweiht sind. Doch dann die Straßensperre, Polizei, Soldaten, Drogenhunde … der Deal platzt. El Negro wird von Irma, einer Paraguayerin, gerettet und erliegt bald dem Charme der femme fatale, die ihn noch Kopf und Kragen kosten soll. Denn in welcher Beziehung La Paraguaya zu seinem Boss steht, wird ihm viel zu spät klar.
Diktatur und Organisiertes Verbrechen
Das alles passiert 1978, als gerade die Fußball WM in Argentinien ausgetragen wird und Diktator Videla seinen „schmutzigen Krieg“ führt. Die Straßen sind voller Soldaten und Polizei, die Guerilla operiert kaum noch, da sie von der Regierung so gut wie ausgelöscht wurde. Nach acht Jahren Haft, also 1986, will El Negro mit seinem Boss abrechnen. Doch wie war das noch mal mit den Mafiaregeln?
Argemí erzählt diese beiden Geschichten (die von 1986 und die von 1978) in alternierenden Kapiteln einmal aus der Ich-Perspektive, einmal in der Er-Form. Der ganze Roman wird so zwar aus der Sicht des Protagonisten geschildert, wirkt aber durch diesen Kunstgriff trotzdem zweistimmig. Die Ich-Ebene ist die emotionalere und zeitlich nähere; sie ist der Ort der Reflexion über die in der Er-Form erzählte Vergangenheit. Narrativ interessant wird es dort, wo die zwei Perspektiven zeitlich direkt aneinander anschließen. Ein raffinierter Spannungsaufbau durch Vorausdeutungen und wiederkehrende Details verblüfft außerdem von Seite zu Seite. Argemí zeigt sich erneut als Virtuose der Erzählkunst, der mit Handlungssträngen, Zeitebenen und Erzählperspektiven so kunstvoll wie nur wenige umzugehen weiß. Nicht zuletzt spiegelt sich auch der Titel (wörtlich „Immer dieselbe Musik“) in einer Technik wider, bei der einzelne Sätze oder kurze Absätze aus vorangegangenen Kapiteln wieder aufgegriffen werden, sodass sie wie ein Echo peinigender Gedanken wirken:
„Der Polaco sagt, dass der Engel für dich spielt, bis er genug davon hat, denn wenn du nicht auf ihn hörst, legt er die Geige weg, und der Teufel nimmt sie an sich. Dann ist es nämlich der Teufel, der das immer gleiche Lied spielt, doch rückswärts, und alles geht den Bach runter.“ (S. 129)
Fazit: Wem der erste Argemí gefallen hat („Chamäleon Cacho“, Unionsverlag metro, 2008), der wird den zweiten lieben: ein unaufdringlich aber präzise kontextualisierter, hartgekochter, schwarzer Roman mit einigen Roadmovie-Elementen. In „Und der Engel spielt dein Lied“ beweist Argemí, dass er zu den ganz Großen der lateinamerikanischen novela negra gehört.
Doris Wieser
Raúl Argemí: Und der Engel spielt dein Lied (Siempre la misma música, 2006). Roman. Aus dem argentinischen Spanisch von Susanna Mende. Zürich: Unionsverlag metro 2010. 187 Seiten. 16,90 Euro.
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