Geschrieben am 8. März 2014 von für Bücher, Crimemag

Robert Wilson: You Will Never Find Me

Robert Wilson_You Will Never Find MeAuf Seite 20 ist die Tochter tot

‒ Robert Wilsons Thriller „You Will Never Find Me“, von Alf Mayer

Ich weiß nicht, wann ich zuletzt mehr Herzklopfen und Pulsrasen verspürt, mehr unter Strom gesetzt worden bin, ein spannenderes Buch gelesen habe. Robert Wilson fährt Vollgas in dem gerade in England herausgekommenen „You Will Never Find Me“, der Fortsetzung von „Stirb für mich“, die Ende September 2014 bei Page & Turner auf Deutsch erscheinen wird. Wilson liest am 17. März in Köln, am 18. März in München und am 19. März in Stuttgart.

„You Will Never Find Me“, mit diesem Satz endete „Capital Punishment“ („Stirb für mich“), das erste Buch mit Charles Boxer, dem Kidnapping-Spezialisten mit der dunklen Seite und der zerrütteten Familie. Siehe dazu auch ein Interview mit Robert Wilson, „Ich denke, die Kleinfamilie hat einen interessanten Punkt erreicht“ und zwei sich ergänzende Besprechungen (hier und hier bei CulturMag und bei Deutschlandradio).

„Ihr werdet mich niemals finden“, mit diesen Worten auf einem zurückgelassenen Zettel verschwindet Boxers Tochter Amy zum Schluss des gerade in Deutschland aktuellen Wilson. Ein klassischer Cliffhanger, der mich jetzt schnellstens zur Fortsetzung greifen ließ. Nach dem großen Panorama von Globalwirtschaft und Terrorismus, dem mehrschichtigen Psychoduell zwischen Boxer und Kidnappern verschiedenster Couleur sowie dem Kräftemessen zweier starker Männer, dem (nach den Inspektor-Falcón-Romanen) neuen Wilson-Helden Charles Boxer und dem indischen Industriemagneten Frank D’Cruz, nach dem CinemaScope von Kidnapping- und Politthriller nun eine kleinere Leinwand, aber noch mehr Abgrund als je zuvor.

Das Gefängnis der eigenen Schwächen und Gefühle

Es geht um eine verschwundene Tochter, die es ihren Eltern zeigen will. Der effektive Boxer hat es dabei mit seinen eigenen Dämonen zu tun, die Mutter, eine Polizistin beim Specialist Crime Directorate 7, muss die Entführung eines russischen Oligarchensohns zu einem guten Ende bringen. Diesen Parallelstrang, das gestehe ich, habe ich überwiegend nur schräg gelesen, spare mir das für die Zweitlektüre auf. Wilson, einer unserer realitätstüchtigsten Krimiautoren, hat gewiss auch hier einen interessanten Blick auf die Welt.

Ich war mit Amy beschäftigt. Die ersten Sätze beschreiben das häusliche Zimmer, das sie verlässt, wie eine Gefängniszelle – die Gitter der eigenen Innenwelt ein bei Wilson öfter bearbeitetes Motiv.

„Goodbye, room.
Shitty little prison. The only thing missing are the bars on the windows. Been locked in here a few times over the years“, beginnt das Buch.

Bei der Polizeistation gibt Amy einen Brief ab, zu öffnen, wenn die Eltern nach ihr fragen werden. „I want to be left alone“, steht darin, neben Anschuldigungen, die später ihren Preis haben werden; selbst wenn man sie finde, sollen die Eltern nicht verständigt werden. Dann wirft Amy SIM-Karte und Handy weg, taucht unters Radar, auf Seite 3 schaut sie im Flughafen Heathrow nach dem Flug nach Madrid. Auf Seite 20 – Achtung, nun folgen Spoiler! ‒ ist sie tot. Der Mann, der das junge Mädchen in einer Disco aufriss und mit sich nach Hause nahm, geht professionell vor, blutet den Leichnam in der Dusche aus, zerstückelt ihn. Er heißt El Osito, „Der kleine Bär“, kräftig und gewalttätig, der Sprössling eines kolumbianischen Kartellbosses und gerade dabei, von Spanien aus in London einen Brückenkopf für den Kokainimport aufzubauen. Der Roman spielt vom 17. bis 30. März 2012, in der Vorzeit der Olympischen Sommerspiele.

robert_wilson_stirb_für_michAchtung, Spoiler zuhauf – aber es bleibt genug …

Auf Seite 64 wissen die Eltern, Amy ist in Madrid. Boxer ermittelt ohne Kompromisse. Mutter Mercy, aus Ghana stammend, was einen noch einmal anderen Blick auf London erlaubt, lässt ihre Polizeidrähte spielen. Auf Seite 110 werden Körperteile und Amys Ausweis gefunden, auf Seite 160 dringt Boxer in El Ositos Wohnung ein, verhört und foltert ihn, verletzt ihn schwer – „You are in the revenge business“, erkennt der einen Bruder im Geiste. „The madest man outside of Mexico“, beschreibt El Osito den Mann, dem er dann doch entkommen kann. Auf Seite 201 steht fest, die Leichenteile, das ist nicht Amy, die DNA stimmt nicht. Amy hat eine Freundin nach Madrid geschickt, um ihre eigenen Spuren zu verwischen.

Der DNA-Test wird Boxers Familie den ohnehin schon heißen Boden unter den Füssen wegziehen, denn Boxer hat sich einen äußerst gefährlichen Feind gemacht, und der weiß, wie er des Engländer habhaft werden kann – indem er die Tochter findet. Wie passend, dass El Osito willfährige Geschäftspartner in London hat …

Das alles endet mit Amy und Boxer und El Osito in einem Raum, mit einem Vater, der das härteste Pokerspiel seines Lebens spielen muss, der selbst das Lösegeld für seine Tochter wird, sich für sie an den ärgsten Feind ausliefert. Herzrasen pur beim Lesen. Und eine heftig-harte, große Lektion in Konsequenz. In gleich mehrfacher Hinsicht schürzt Robert Wilson die Erzähl- und Motivfäden derart vertrackt, dass selbst gut gemeinte Absichten die schlimmsten Folgen haben, dass die Stunde der Abrechnung für alles kommt. „Truth or Consequences“ ist eben nicht ein Ort in New Mexico, wenn man ein Und dazwischensetzt.

Immer wieder habe ich mich – wohl auch aus Selbstschutz der sich ständig steigernden Spannung gegenüber – der Logik der Erzählung vergewissert. Das kann doch nicht sein, dass dieses Puzzleteil jetzt einrastet. Doch, kann es. Tut es. Wilsons Plot ist abgesichert und poliert wie ein Gewehrlauf, verlässt sich keineswegs nur aufs Adrenalin, sondern bleibt psychologisch und faktisch nachvollziehbar und reell.

Wilson ist, das bestätigt sich eindrucksvoll erneut, einer unserer realitätstüchtigen und rundum erwachsenen Erzähler. Die Knochen- und Herzensmühle, durch die er seine Protagonisten schickt, hat großes Format. Kriminalliteratur für Erwachsene.

I’ll miss all that stroking“: ein großes Loch in seinem Leben

Gewidmet ist „You Will Never Find Me“ Wilsons Frau: „My only Jane. 1955 – 2013.“ In einem Nachwort („not so much an acknowledgement but more an admission of a huge debt and a massive gap in my life“) beschreibt er das gewaltige Loch, den ihr Tod in ihm gerissen hat. 27 Jahre waren sie verheiratet, sie weit belesener als er, eine unermüdliche Helferin und stets die erste Kritikerin. Wie man weibliche Charaktere schreibe, habe sie ihm gelehrt, habe ihn zu dem Autor gemacht, der er geworden sei. Wilson, der mit ihr längere Jahre unter sehr bescheidenen Verhältnissen im hintersten Portugal, im Alentejo, lebte, macht dann eine Liebeserklärung, die mich zu Tränen rührte:

„When asked what on earth she did out in the depths of rural Portugal while I was writing she always replied very modestly: ‚I do the stroking.‘
I’ll miss all that stroking.“

All das Streicheln, das nun fehlt. Was für ein Autor wird nach zwölf Romanen nun aus Robert Wilson, heute 57, werden? Ohne Jane, aber mit einer Erfahrung solchen Verlusts? Schon bisher war bei ihm zu fürchten, wie existentiell das Schicksal seine Protagonisten anfällt, wie seine Kriminalromane eben weit tiefer als nur Geschichten auf Knietiefe sind. Wilson bleibt ein aufregender Autor, das ist gewiss.

Alf Mayer

Robert Wilson: You Will Never Find Me. Orion Books, London 2014. 372 Seiten, GBP 16.99
Robert Wilson: Stirb für mich (Capital Punishment; London 2013). Deutsch von Kristian Lutze. München: Page & Turner 2013. 540 Seiten. 14,99 Euro. Homepage des Autors.

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