Egomanisch, mit scharfem Verstand
Neulich hat uns Doris Wieser den chilenischen Autor Roberto Ampuero in einem Interview vorgestellt. Nun ist sein Roman Der Fall Neruda erschienen. Hier die Rezension.
Chile 1973. Die sozialistische Regierung unter Salvador Allende gerät aufgrund gravierender wirtschaftlicher Schwierigkeiten immer mehr unter Druck. Vorbei sind die euphorischen Jahre und ihre Hoffnung auf sozialen Wandel. Über Santiago ziehen dunkle Wolken auf, aus denen das Schießpulver des immer näher rückenden Militärputschs zu rieseln beginnt. Inmitten dieser unheilvollen Atmosphäre scheint einer völlig fehl am Platz: der junge Cayetano Brulé, ein gebürtiger Kubaner, der noch vor der Revolution nach Miami ausgewandert ist und sich 1971 mit seiner chilenischen Frau in Valparaíso niedergelassen hat. Im Gegensatz zu ihr verfolgt der Immigrant aber keine großen politischen Träume. Als seine Frau ihm ankündigt, nach Kuba in ein Trainingslager für Guerilleros (Punto Cero) reisen zu wollen, kommt es zum Bruch.
Brulé
Vor diesem Hintergrund spielt Roberto Ampueros neuster Roman, Der Fall Neruda, der bereits der sechste Teil der Cayetano-Brulé-Serie ist, inhaltlich aber erstmals ganz an den Beginn der Karriere des Privatdetektivs führt. In Form einer ausgedehnten Rückwendung erinnert sich Cayetano daran, wie ihm Pablo Neruda seinen ersten Auftrag erteilte und wie seine Karriere als Privatdetektiv begann. Auf die Idee zum Roman kam der Autor durch einen Vers aus Nerudas Gedichtband Die Verse des Kapitäns (Versos del capitán, 1953), in dem das lyrische Ich nach dem Verbleib seines Sohnes fragt. Ausgehend davon sehnt sich der fiktionalisierte Neruda nach einem Nachkommen, der ihm ein fleischliches Weiterleben garantieren soll, das sich von der Unsterblichkeit seines Werks substanziell unterscheiden würde. (Die einzige Tochter der historischen Person Neruda wurde mit einer Behinderung geboren und starb im Alter von acht Jahren.) Im Roman klammert sich der Dichter an die Hoffnung, eine seiner zahlreichen Geliebten könne ein Kind von ihm haben, und beauftragt den jungen Cayetano Brulé damit, dies in Erfahrung zu bringen.
Neruda
Die Ermittlungsarbeit wird zum Anlass, die politische Stimmung des Jahres 1973 in Chile sowie in den anderen Ländern, in die Cayetano reist (Mexiko, Kuba, die DDR und Bolivien), einzufangen sowie das Dilemma der politischen Aktivisten zu hinterfragen, die vor der Entscheidung stehen, die Waffen zu ergreifen oder sich resigniert zurückzuziehen. Die literarische Verarbeitung großer geschichtlicher Ereignisse verbindet der chilenische Autor in allen seinen Romanen mit dem persönlichen Schicksal einzelner Menschen. Daher erhält Cayetanos Ermittlungsarbeit eine doppelte Stoßrichtung: Sie umfasst die Untersuchung gesellschaftspolitischer Konstellationen ebenso sehr wie die Suche nach der Wesensart Nerudas.
Was für ein Mensch war er? Ampuero gelingt es, apologetischen Diskursen zu entgehen und den Dichter als einen großen Intellektuellen darzustellen, der nicht nur in seinem politischen Leben und seinem Verhältnis zum Sozialismus widersprüchlich agierte, sondern dies ebenso sehr im Privatleben. Mit viel Feingefühl entwirft Ampuero das Charakterbild eines Genies, vor dem er einerseits Hochachtung empfindet, dessen moralische Verfehlungen er aber nichtsdestotrotz herausarbeitet. Dabei gelingt ihm das schwierige Unterfangen, das Verhalten Nerudas weder anzuklagen noch zu rechtfertigen, sondern schlicht zu erklären. Der fiktionalisierte Neruda ist alt, krank und bereit, über seine Schwächen zu sprechen. Er artikuliert aber keine Reue, sondern nur die Erkenntnis, sein Glück auf den Schmerz vieler anderer, vor allem seiner Frauen, gebaut zu haben. Ampuero beschreibt ihn als egomanischen Dichter mit scharfem Verstand, der sein künstlerisches Schaffen über das Wohl seiner Nächsten stellt, einen Mann der großen Leidenschaften und tiefen Gefühle, die er stets funktionell seinem Dasein als Künstler unterordnet.
Ampuero
Der Fall Neruda ist ein reflexiver, poetischer Roman mit ruhigem Rhythmus und langem Atem, ein Werk, das viel Überblickswissen über den westlichen Kulturraum enthält, aus der Vogelperspektive verschiedene Länder nach ihrer Individualität und ihren Widersprüchen abtastet und voll und ganz zu Ampueros Linie passt, auch wenn es dieses Mal weder um eine Bluttat noch um internationale Verschwörungen geht.
Ampuero ist kein Autor des ästhetischen Experiments, auch kein Sprachkünstler der Polyvalenz, des Ambiguen, Unentschiedenen und Irritierenden, sondern ein Schriftsteller, der sich auf erprobte Erzählstrategien verlässt, um sich auf eine klar verständliche Darstellung der Inhalte konzentrieren zu können. Der Chilene und Weltbürger besitzt eine sehr genaue Vorstellung davon, was er den Lesern vermitteln will: persönliche und gleichzeitig paradigmatische Erlebnisse unserer Zeit. Das literarische Nacherleben von Erfahrungen vollzieht sich in Ampueros Romanen ohne Rezepte für die Entschlüsselung der Weltmatrix, jedoch mit einem gut sortierten Blick auf interkontinentale politische Zusammenhänge, kulturelle Codes und menschliche Universalien.
Tipp: Beginnen Sie mit diesem Buch, weil es den Anfang von Cayetano Brulés Laufbahn erzählt, und greifen Sie danach (antiquarisch) nach den anderen Romanen der Serie, vor allem nach Der Schlüssel liegt in Bonn.
Doris Wieser
Roberto Ampuero: Der Fall Neruda (El caso Neruda, 2008). Roman.
Aus dem Spanischen von Carsten Regling.
Berlin: Bloomsbury Berlin 2010. 380 Seiten. 22,00 Euro.