Erschütterungen
Von Sonja Hartl
Dieses Buch stellt viele Fragen: Sind große Bombenanschläge wirklich schlimmer als kleine? Sie fordern mehr Opfer, brennen sich in unser Gedächtnis ein, verschaffen mehr Aufmerksamkeit – aber wie bemisst man eigentlich den Schaden? In Toten? In Schlagzeilen? Oder in den Folgen, die sie haben? Und wie beurteilt man diese Folgen, sind sie nicht eventuell nachträglich hergestellte Kausalitäten, die den Eindruck erwecken sollen, dass im Rückblick alles Sinn ergibt und als scheinbar unweigerliche Konsequenz bestimmte Ereignisse so eintreten mussten? Oder wird damit nicht vielmehr verschleiert, dass es immer die Möglichkeit gibt, bestimmte Entwicklungen aufzuhalten, den Kurs zu ändern, für Veränderungen zu sorgen?
In Karan Mahajans „In Gesellschaft kleiner Bomben“ geht es um einen dieser kleinen Bombenanschläge, die es vermutlich kaum in die Tagesschau und bestimmt nicht auf die Titelseite internationaler Zeitungen bringen. Im Mai 1996 explodiert auf dem Markt in Lajpat Nagar in Neu-Delhi eine Bombe. Es gibt 13 Tote und 30 Verletzte, schnell bekennt sich die Jammu and Kashmir Islamic Force zu dem Anschlag. Natürlich Muslime, ist man fast geneigt anzufügen, denn schon in den 1990er Jahren werden Anschläge in Indien vor allem Muslimen zugeschrieben, sie sind die Außenseiter, das Feindbild in dieser von Hierarchien geprägten Gesellschaft.
Unter den Opfern des Anschlags befinden sich Tushar und Nakul, die beiden einzigen Söhne von Deepa und Vikas Khurana, elf und 13 Jahre alt. Ihr zwölfjähriger Freund Mansoor Ahmed überlebt. Deepa und Vikas sind liberale Inder, sie schmücken sich gerne mit ihrem weitläufigen Bekanntenkreis, zu denen eben auch Ahmeds Eltern gehören, obwohl sie muslimischen Glaubens sind. Und anfangs spielt dieser Glauben auch keine Rolle, sie sind alle nicht besonders religiös.
Den Folgen dieser Bombe, die nicht bei den Toten halt machen, spürt Karan Mahajan nun in seinem Buch nach – im Persönlichen. Da ist der Täter, Shaukat „Shocki“ Guru, der Gruppe angehört, die für die Unabhängigkeit Kaschmirs kämpft – und daran festhalten will, dass dies der richtige Weg ist. Da sind die Deppa und Vikas, überwältigt von Kummer, anfangs unfähig zu trauern, später kaum fähig, damit aufzuhören. Erst bringt der Verlust sie zusammen, dann wieder auseinander. Erst weigern sie sich, über Schuld zu sprechen, dann treibt die jeweils eigenen Schuldgefühle zusehends einen Keil in ihre Ehe, den sie kaum überleben kann. Dieser Anschlag hat ihnen ihre Kinder genommen, zugleich definiert er sie aber fortan auch als die, die ihre Kinder durch eine Bombe verloren haben.
Der überlebende Mansoor hingegen kämpft mit Unsicherheit und Schuldgefühlen; er weiß, er hatte Glück, zugleich wittert er fortan überall Gefahr. Vielleicht hätten seine Eltern ihm psychologische Beratung vermitteln sollen, aber bei Afsheen und Sharif Ahmed überwiegt das Gefühl des Glücks, dass ihr Sohn, den sie schon immer übermäßig behütet haben, überlebt hat. Er hätte ja dort gar nicht sein sollen. Es war eine kindliche Übermutshandlung, dass er mit den Freunden auf den Markt gegangen ist. Und so klammern sie sich an die Gewissheit, dass sie ihren Sohn eigentlich beschützt haben, während er am liebsten zu Hause bleibt, wo er sich sicher fühlt. Denn weiterhin bleibt er ja in der Schule ein Außenseiter, weil er der einzige Muslim ist. Mit 17 Jahren schließlich geht er in die USA und studiert dort.
Aber auch dieses Leben zerfällt durch eine Bombe: den Anschlag vom 11. September folgt das Misstrauen gegenüber ihm, dem Muslim; hinzu kommen körperliche Leiden, die es ihm unmöglich machen, sein Informatikstudium weiterzuführen. Seine Handgelenke sind von Mikrorissen übersät, die sich durch das Tippen ausbreiten. Fast so als wäre damals sein Knochenskelett erschüttert worden und hätte sich – wie sein Leben – niemals von dem Anschlag erholt.
Damit bleibt ihm kein Ausweg in einem anderen Land, sondern er kehrt zurück nach Indien – und man folgt seinem Leben, den Irrwegen und falschen Entscheidungen, die er trifft. Begleitet von gelegentlichen Hinweisen des Erzählers auf Fehleinschätzungen der Figuren, treibt dieses Leben auf weitere größere und kleinere Katastrophen zu. Dabei geht es aber nicht nur um die Entscheidungen, die die Figuren treffen, vielmehr bietet die indische Gesellschaft und Politik den idealen Nährboden. Hass, Korruption und polizeiliche wie justizielle Willkür ermöglichen bestimmte Entwicklungen erst; hinzu kommt die allgegenwärtige Scham, die dazu veranlasst, privates Unglück und insbesondere Armut um jeden Preis zu verheimlichen.
Großartig nutzt Karan Mahajan die verschiedenen Perspektiven, um Einblicke in Denk- und Verhaltensmuster zu geben. Dabei konzentriert er sich klugerweise auf einen bestimmten Schauplatz und eine Gesellschaft, die wiederholt mit Gewalt konfrontiert ist. Dadurch zeigt er, wie Gewalt und Terror in ihr nachwirkt, wie sie sie nach und nach zersetzen. Außerdem sind die Bombenleger zwar Muslime, aber sie morden nicht aufgrund religiöser Radikalität, sondern aus politischen Gründen. Damit verweist er auch auf die Vielschichtigkeit von Motivationen und Probleme der Gegenwart. Denn eines steht nach diesem Buch fest: Jede Bombe hat genug Kraft, um Menschen zu zerstören.
Sonja Hartl
Karan Mahajan: In Gesellschaft kleiner Bomben. CulturBooks 2017, Übersetzt von Zoë Beck. 376. Seiten. 25,- Euro