Geschrieben am 15. Juni 2016 von für Bücher, Crimemag

Roman: Nathan Larson: Zero One Dewey

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Endlich ist, nach einem Verlagswechsel, der dritte und letzte Teil der Dewey-Decimal-Trilogie von Nathan Larson erschienen: Zero One Dewey (Polar Verlag).  Thomas Wörtche freut sich.

Wir erinnern uns: Am 14. Februar, am Valentins-Tag (also an dem Tag, an dem man eher an das berühmte Massaker von 1929 als an Blümchen denken sollte), ist New York City von einer verheerenden Katastrophe getroffen worden. Ein Mega-Crash, der die Stadt in ein rauchendes, stinkendes, von toxischen Dämpfen und Giftregen zunehmend zersetztes Trümmerfeld verwandelt hat. Die Hälfte der Bevölkerung ist verschwunden, alle Ordnungsstrukturen auch. Bewaffnete Banden versuchen, sich ihre Territorien zu sichern, ethnische Clans bekämpfen sich,  Reste von staatlichen Organisationen und Privatarmeen, die einen so machiavellistisch wie die anderen, treiben im Chaos ihre Machtspiele weiter, Untergrundorganisationen halten dagegen. Hobbes´ Leviathan hat die Aufklärung verschlungen, das Recht des Stärkeren dominiert jede Rationalität.

Dewey Decimal

Und mitten drin Dewey Decimal. Ein Ex-Soldat, schwarz, aber von lange ungeklärter ethnischer Abkunft. Er ist cyborgmässig aufgerüstet, gespickt mit Implantaten, die eine Kampfmaschine aus ihm machen, abhängig von seinen Drogen, aufrechterhalten von seinen Neurosen, von seinem Hygienetick, seinem Mode-Fetischismus und seiner Privatsystematik, mit der seine Bewegungen durch die Stadt koordiniert. Dewey Decimal nennt er sich nach dem berühmten Ordnungssystem für Bibliotheken, das er benutzt, um seinen Unterschlupf, die verminte und befestigte New York Public Library (Sie wissen schon, die mit den beiden Löwen Patience und Fortitude am Eingang) wie ein irrer Sisyphos neu zu ordnen. Allerdings scheint es so, als habe man auch DDs Gedächtnis manipuliert. Er wird von Flashbacks gequält, die alles andere als verlässliche Hinweise auf seine Vergangenheit bieten, ihn zu einem „Mann ohne Eigenschaften“, aber mit ein paar außerordentlichen Fähigkeiten machen. Wie zum Beispiel die, besonders gut andere Leute umzubringen und Gewalt

Patience, south of the main steps

Patience, south of the main steps

als effektive Option zu verstehen. Das mag er zwar nicht besonders, aber es sichert ihm das Überleben. Das Überleben und seine im Notfall revitalisierende medizinische Betreuung verdient er sich mit seiner erpressten Rolle als Mann fürs Grobe im Dienste eines korrupten, ruchlosen Ex-Senators, der seine eisigen, intriganten Ambitionen unter einem alttestamentarischem Galimathias verbirgt, als ob er ein noch fieserer Verwandter von Donald Trump wäre. Nicht, dass das DD nicht völlig klar wäre. So, wie ihm jede Art von Autorität und Hierarchie zutiefst zuwider ist.

Eskalation

In den ersten beiden Bänden der Trilogie, in „2/14“ und „Boogie Man“ versucht, DD die Quadratur des Kreises – im Sinne seines Auftraggebers sich mit allen möglichen waffenstrotzenden Strukturen anzulegen und dennoch seine eignen, wenn auch recht rudimentären Moralstandards zu wahren, auch wenn die Kollateralschäden für ihn traumatisch werden.

Hier, im dritten Teil, in „Zero One Dewey“ eskaliert die Situation noch mehr. Dewey soll ein Geschwisterpaar aus saudischem Adel unappetitlicher Fortpflanzungstechnologie zuführen, was ziemlich viele Leute ziemlich final und aus wahrlich nicht humanitären Gründen  verhindern möchten. und stößt endgültig an seine moralischen Grenzen.  Zumal er allmählich immer mehr unschöne Dinge über sich selbst herausfindet und ihm sein kybernetisches Rüstzeug abhanden kommt.

leviathanDystopie

Nathan Larsons grimmige, oft satirische Dystopie zeichnet eine amerikanische Gesellschaft, der alle ihre politischen und sozial(-psychologischen) Sünden der letzten Jahrzehnte auf den Kopf gefallen sind und sie zermalmen. Ein modernes Sodom & Gomorrha, dessen Sünden nicht moralischer, sondern politischer Natur sind. Erfreulicherweise verzichtet Larson auch im Schlussband der Trilogie darauf, die Ereignisse am Valentinstag mit buchhalterischer Akribie endlich aufzuklären. Der Kollaps ist ein Kollaps ist ein Kollaps. Und auch DDs Identität ist zweifelhaft geblieben, denn ob das, was man ihm erzählt, nachdem das manipulative Implantat entfernt wurde, nun wiederum die reine Wahrheit ist, lässt sich nicht genau sagen. Womit Nathan Larson, der mal in der persona des erfolgreichen Musikers, manchmal in der persona als Schriftsteller von Rang agiert, gleichzeitig, die elenden „Identitätsdebatten“ (getreu dem Motto seines durchaus geistesverwandten großen Kollegen Jerome Charyn: „Identitäten wechsle ich so flink wie ein Ghettowolf“) sabotiert, die gerade die gesellschaftspolitischen Diskurse in die Vormoderne schießen wollen.

Sabotage

Überhaupt Sabotage: Larson verweigert nicht nur die genreübliche, restlose „Aufklärung“ am Ende –  ein neuralgischer, weil zur Banalisierung zwingender neuralgischer Aspekt von „Krimi“ –, sondern zerstäubt durch gnadenlose Hybridisierung auch jede meaning of structure. Die DD-Trilogie besteht aus Elementen des noirs, der Science Fiction, des Polit-Thrillers mit kräftigen Ego-Shooter-Einschüssen, bedient sich fröhlich aus den Archiven der Populären Kultur, ist komisch, satirisch, polemisch und hat gleichzeitig eine wuchtige Tragik. Gut, dass die großartige Übersetzerin Andrea Stumpf, den Sound der ganzen Trilogie auf Deutsch neu erfunden hat. Vor allem die Wisecracks, die DD, klassisch im Sinne Chandlers als subversive Waffe dessen, der outnumbered und outgunned ist, einsetzt und die auch den Erzählgestus beherrschen, markieren die skeptisch-ironisch-aggressive Grundhaltung des ganzen Projekt, ohne auf die Verbindlichkeiten der hard-boiled-pi-novel groß Rücksicht zu nehmen. Sie kontrastieren die düsteren Halluzinationen und Visionen über eine aus dem Ruder gelaufene Gesellschaft. Visionen und Halluzinationen, wie sie auch DD heimsuchen. Zwischen Selbsttäuschung, Selbstbehauptung und furchtbaren Ahnungen oszillierend. Ein bis zum Ende konsequent durchgezogenes, radikales Projekt. Furchterregend gut.

Thomas Wörtche

Nathan Larson: Zero One Dewey. (The Immune System, 2015) Roman. Deutsch von Andrea Stumpf. Polar Verlag, Hamburg 2016. 303 Seiten, 14,90 Euro.

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Offenlegung: Thomas Wörtche hat Nathan Larsons Trilogie nach Deutschland geholt, die ersten beiden Bände „2/14“ und „Boogie Man“ erschienen in seiner Reihe Penser Pulp im Diaphanes Verlag (auf der Website des Verlags ist diese Herausgeberschaft getilgt). Dankenswerterweise hat Wolfgang Franßen mit seinem Polar Verlag das Projekt gerettet. In diesem Verlag sind als „Penser Polar“ Thomas Wörtches Kolumnen zur Kriminalliteratur erschienen.

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