„BUDDHA SIEHT ALLES“ – nur nicht rote Ratten, perfide Prinzlinge und korrupte Kader
– Der unbestechliche, von alter chinesischer Lyrik begeisterte Shanghaier Oberinspektor Chen wird plötzlich auf einen unbedeutenden Posten weggelobt, dann verschwinden Beteiligte und Zeugen, die in dubiose Korruptionsaffären verwickelt waren. Chen stochert bei seinen eigenmächtigen Ermittlungen im Nebel; er wird massiv bedroht und taucht in einem Provinznest unter. Der Fisch stinkt auch im turbokapitalistischen, rot kaschierten China vom Kopf her, wie der in den USA lebende chinesische Uni-Dozent, Übersetzer und Autor Qiu Xiaolong in seinem achten Chen-Krimi „Schakale in Shanghai“ zeigt. Von Peter Münder
Sein Oberinspektor-Titel hatte eigentlich immer zu ihm gehört wie das Haus zur Schnecke, grübelt Chen Cao, nachdem er vom wichtigen Sonderdezernat auf einen unbedeutenden Posten weggelobt, bzw. degradiert wurde. Ohne diskrete Vorwarnung seiner Kollegen oder Freunde, was ihn extrem verunsichert und irritiert: Was braut sich da zusammen? Er ahnt zwar, dass er einigen Politkadern bei irgendwelchen Ermittlungen auf die Füße getreten war und dass unter den sensiblen Fällen, die er demnächst in Angriff nehmen soll, auch besonders heikle und kontroverse Affären sind, deren Enthüllungen für größere Skandale sorgen könnten – doch konkrete Anhaltspunkte hat Chen noch nicht. Wer wollte ihn also aus dem Weg räumen, um peinliche und aufsehenerregende Enthüllungen zu verhindern ? Es sind diffuse Ahnungen, die ihn bedrücken, während er am Quingming, dem Gräberputztag im April, sich im provinziellen Suzhou nahe Shanghai um das verwahrloste Grab seines verstorbenen Vaters kümmert. Dann wird er von seinem Verleger zu einem pompösen Literaturabend mit der von ihm übersetzten TS-Eliot-Lyrik in einen mondänen Nachtclub eingeladen, der bei neureichen Geschäftsleuten und gut vernetzten Kadern beliebt ist. Als er dann in einen Salon mit zwei halbnackten Animiermädchen gerät, entgeht er nur zufällig einer großangelegten Razzia. Offenbar war Chen in eine Falle getappt und sollte endgültig abserviert und als moralisch unglaubwürdig entlarvt werden.
Keine Frage, Chen steckt in Schwierigkeiten, doch er will sich nicht einfach ins Abseits manövrieren lassen. Also eruiert er „autonom“ mit Hilfe einiger treuen Kollegen, was die Buschtrommel über neueste Skandale und Andeutungen aus dem Behörden- und Parteiapparat vermeldet. Außerdem taucht der schöngeistige Chen, der die Lyrik der Tang-Dynastie ebenso schätzt wie Gedichte von TS Eliot oder Krimis von Chandler oder Hammett, nun auch in die Untiefen des Internet ein, um die neuesten Skandale und Gerüchte über Korruptionsaffären der höheren Politkaste oder der dekadenten, verwöhnten jungen „Prinzlinge“ zu sichten.
Er ist schon ein ungewöhnlicher und enorm sympathischer Inspektor, dieser Chen: Den Finger hat er direkt am Puls der High-Tech- Zeit, das Ohr aber auch offen für alte Opern und Verse von Su Shi aus dem 11. Jahrhundert. Vor allem aber bleibt er auf dem Teppich, hat Verständnis für die Ausgegrenzten in diesen von Parteibonzen angekurbelten neokapitalistischen Goldgräberzeiten und kümmert sich um seine alte , an den aufmerksamen Buddha glaubende Mutter („Buddha sieht alles“) ebenso liebevoll wie um den pensionierten „Alten Jäger“, der ihn beim Sammeln von wichtigen Informationen über Vertuschungsprozesse im Beamtenapparat unterstützt und sich als Privatdetektiv in einer Grauzonen-Nische etablieren will.
„Eine bis in den Kern hinein verfaulte Gesellschaft“
Als sich die beiden über skandalöse Bonzen-Machenschaften und den Verlust moralisch-ethischer Normen im neuen China unterhalten, wird erkennbar, wie weit diese brutale Umwertung aller Werte fortgeschritten ist und wie zynisch die Politkaste versucht, mit der Wiederbelebung alter Agitprop-Songs aus der Mao-Zeit („Singt rot!“) die aus dem Ruder gelaufene Korruption und das Ignorieren geltender Rechtsnormen zu kaschieren.
Chen erinnert sich, wie der Prinzling „Kleiner Shang“, Sohn eines einflussreichen Generals, einen Autounfall verursachte, den Fahrer des anderen Autos übel zusammenschlug und den am Unfallort eintreffenden Polzisten sofort zurief: „Mein Vater ist General Shang!“ Woraufhin die bürokratischen Instanzen sich einfach wegduckten und erst reagierten, als „Kleiner Shang“ später mit einigen Kumpels ein betrunkenes Mädchen in einer Massenvergewaltigung schändeten – aber auch erst, als Videosequenzen vom durchgeknallten Prinzling im Internet auftauchten. Diesen Rückblick von Chen kommentiert der entsetzte Alte Jäger kurz und knackig mit dem Satz „Unsere Gesellschaft ist doch bis in den Kern hinein verfault“. Und genau diesen faulen Kern hat Xiaolong schon seit seinem ersten Chen-Krimi „Tod einer roten Heldin“ (zuerst veröffentlicht als „Death of a Red Heroine“ 2000) im Visier. Auch wenn manche Sequenzen etwas betulich anmuten, weil Chen schon wieder einige Gedichtzeilen eines Tang-Meisters zitiert oder ihm die Musik einer alten Suzhou-Oper durch den Kopf geht- Chen bleibt immer der unbestechliche, aufrechte Kämpfer für Recht und Gerechtigkeit, der den korrupten Kadern und den gierigen Immobilienhaien gehörig auf die Finger klopft.
Der 63jährige Autor Qiu Xiaolong ist Dozent für chinesische Literatur an der Washington University in St. Louis, hatte englische und amerikanische Literatur studiert und TS Eliot, Chandler und Ruth Rendell ins Englische übersetzt. Dass er großer Fan des schwedischen Autoren-Duos Sjöwall/Wahlöö ist, kann man gut nachvollziehen, denn wie die Schweden hat er ein feines Sensorium für skrupellose gesellschaftliche Umbruchphasen, Bürokraten-Exzesse oder die Mauscheleien eines renditegierigen Establishments. Seine Hauptfigur Chen hat er mit einigen autobiographischen Zügen versehen: Auch Xiaolongs Vater war während der maoistischen Kulturrevolution gefoltert worden, Chen hat auch, wie sein Autor, TS Eliots Werke übersetzt. Und Xiaolong war von seinem USA-Studienaufenthalt aus Protest gegen die roten Machthaber nicht nach China zurückgekehrt, als er von dem Massaker am Tiananmen-Platz erfuhr.
Abgehörte Telefonate, gehackte E-Mails, ermordete Erpresser
Statt rasanter Verfolgungsjagden oder Schießereien entwickelt Xiaolong seinen spannenden Plot um abgehörte Telefongespräche, Erpressungsmanöver von ausgebooteten Zweitfrauen, überhöhte Rechnungen für die Ausrüstung staatlicher Eisenbahnen und das plutokratisch-kriminelle Gebaren hoher Kader. Dabei bedient sich Chen der von einem angeheuerten Hacker heimlich ausspionierten e-mails, außerdem kann er wie ein routinierter Nerd inzwischen auch intensive Internet-Recherchen betreiben und aktuelle Blogs auswerten. Wer glaubt, das kriminelle Treiben der neuen chinesischen Kaderkasten und Plutokraten, das Chen hier aufklären will, wäre vom kritischen Xiaolong übertrieben, sollte sich nur mal mit einigen Infos zu den letzten chinesischen Riesenskandalen beschäftigen.
Im Roman werden die beschriebenen Skandale und Delikte als konstruiert oder fiktional dargestellt, doch einige Ähnlichkeiten und Überschneidungen mit konkreten spektakulären Machenschaften der letzten Jahre sind unübersehbar: Vor drei Jahren wurde der KP-Chef von Chongqing, Bo Xilai, aus der Partei verstoßen und seine Frau wegen der Ermordung des britischen Geschäftsmanns Neil Heywood zum Tode verurteilt. Sie hatten Heywood als Strohmann für dubiose Immobiliengeschäfte eingesetzt, wurden dann aber erpresst, als der Brite für den Deal um eine französische Xilai-Villa an der Cote d´ Azur ein zu hohes Honorar verlangte. Und der durchgeknallte Orchideen-Tycoon Yang Bin wollte sogar (für ein Schmiergeld von 20 Millionen Dollar) mit dem nordkoreanischen Diktator Kim Jong Il Ende der 1990er Jahre eine souveräne nordkoreanische Freihandelszone ausmauscheln, in der ihn der Nordkoreaner sogar als Gouverneur einsetzen wollte. Doch der größenwahnsinnige Kreditbetrüger und Konstrukteur von Vergnügungsparks mit schmucken holländischen Butzenscheibenhäuschen Yang Bin pokerte immer höher, bis es sogar den Bossen in Peking zu bunt wurde: Eine halbe Milliarde Dollar erschwindelter Kredite war selbst für hartgesottene KP-Funktionäre zu dreist, also wanderte Yang Bin in den Knast. Den nordkoreanischen Antrag auf seine Freilassung lehnten die Chinesen entrüstet ab: Schließlich gäbe es ja noch eine rigide Trennung von Exekutive und Judikative! Oder etwa nicht?!
Qiu Xiaolong ist mit „Schakale in Shanghai“ wieder ein faszinierender Wurf gelungen, der die ökonomischen und politischen Turbulenzen in einer undurchsichtigen turbokapitalistischen Grauzone wie ein fein justierter Seismograph registriert. Das Pendeln zwischen extrem unterschiedlichen Kulturkreisen – High-Tech-Vernetzung hier, Aprikosenblütendorf-Lyrik aus der Tang-Dynastie dort – funktioniert jedenfalls wie ein grandioser, verblüffender Verfremdungseffekt, der auf ursprüngliche Bedürfnisse und auf schlichte menschliche Verhaltensmuster verweist. Zitat aus einem Du Mu-Vierzeiler:
Um Qingming fällt Nieselregen
Auf die untröstlichen reisenden entlang der Straße.
„Ach, wo ist die nächste Herberge?“
Der Hütejunge weist den Weg ins Aprikosenblütendorf…
Früher, zur Zeit von Konfuzius, war vielleicht nicht alles besser, so würde Chen wohl argumentiere, aber einfacher und übersichtlicher. Und die Hauptfigur Chen berührt und begeistert immer wieder, sowohl als unbeirrbarer Kritiker eines maroden, pervertierten Systems als auch als bodenständiger Humanist.
Die Beschäftigung mit all diesen chinesischen Exzessen/ Irrungen/Wirrungen ist gerade in diesen Tagen besonders brisant, weil die chinesischen Medien jetzt mit stärkerem Druck von der obersten KP-Riege drangsaliert und propagandistisch gleichgeschaltet werden sollen: Staatschef Xi Jinping tingelt gerade durch Chinas TV-Sender und Zeitungsredaktionen, um allen Redakteuren einzuimpfen, dass sie den Staat und die roten Herrscher „lieben“ sollen und endlich umparken auf eine positive Schiene – nicht nur im Kopf, sondern vor allem in ihren Berichten. Man darf wohl gespannt sein, wann Texte von Konfuzius wieder zensiert werden. Zum Glück vermitteln die Inspektor Chen-Krimis von Xiaolong eine kräftige Dosis kritischer Immunisierung gegen diese dummdreiste Indoktrinierung im Stil von Orwells „1984“.
Peter Münder
Qiu Xiaolong: Schakale in Shanghai. Oberinspektor Chens achter Fall. (Shanghai Redemption, 2015) Roman. Dt. von Susanne Hornfeck. Wien: Zsolnay Verlag 2016. 318 Seiten. 19,90 Euro.
Dazu auch: Barbara Koh: Tiananmen changed all my plans. Newsweek 29/1/2006 und Europe.Newsweek