Leiser Schrecken
von Thomas Wörtche
Regina Nössler gehört – literaturbetrieblich gesehen – zu den eher Stillen im Lande. Das darf aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass sie zu den ganz Großen gehört. Ihr neuer Roman, „Schleierwolken“ unterstreicht das nachdrücklich.
Schlimme Dinge können ganz banal daherkommen. Elisabeth Ebel führt ein wenig sensationelles Leben in Berlin. Sie arbeitet für eine Art Schreibbüro als Korrektorin, obwohl sie ein abgeschlossenes Studium hat. Ihre verwitwete Mutter in Wattenscheid of all places triggert ihr schlechtes Gewissen, nörgelt und meckert an allem, zwingt sie aber alle paar Wochen zu unerquicklichen Besuchen. Elisabeth hatte die eine oder andere gescheiterte Beziehung, hat sich aber ansonsten im stillen Nicht-Glück ganz gut einrichtet. Meint sie. Bis sie sich plötzlich verfolgt fühlt, obwohl sie das nicht belegen kann. Unheil deutet sich an, bleibt aber unscharf. Hat sie tatsächlich einen Mord mit angesehen? Wollte tatsächlich jemand sie vor den Bus schubsen? Hat die Frau, die sie für einen One Night Stand mitgenommen hatte, tatsächlich später ihren Laptop und eine Kamera aus ihrer Wohnung geklaut? Was ist, damals in ihrer Jugend, in der Gartenlaube wirklich passiert? In Elisabeth, die Weltmeisterin im Verdrängen und Vergessen, steigen Erinnerungen hoch, die sie eigentlich nicht haben will. Was sie mit ihrer greisen Mutter in der Badewanne getan hat, wie öde und fahl ihre Kindheit und Jugend im öden und fahlen Wattenscheid war, was es mit einer Affäre mit der Gattin eines Kunden auf sich hatte. Schleierwolken überziehen die Welt von Elisabeth und „Schleierwolken“ heißt der sensationell gute Roman von Regina Nössler.
Flashs
Die anscheinende Kleinteiligkeit der Erzählung ist kompositorisches Prinzip. So hatte sie zum Beispiel in ihrem Roman „Auf engstem Raum“ einen kleinen Schreibwarenladen als klaustrophobisches Universum inszeniert, und so sind auch ihre Alltagssituationen, die menschlichen Interaktionen, das Innenleben ihrer Figuren nicht nur genaueste Vignetten, sie entwerfen nichts anderes als den Schrecken des Normalen, des Banalen, des pointiert Menschlichen. Sie befragt schon fast inquisitorisch Alltagserfahrungen auf ihre toxischen Implikationen – und sie wird in erschreckendem Masse fündig. Alf Mayer hatte sie vor Jahren in die Tradition von Patricia Highsmith gestellt, aber Nösslers Verzicht auf glamouröse Schauplätze, die ganz konkrete Ansiedlung ihrer Personen im täglichen Zermürbungsprozess des nicht privilegierten Arbeitslebens today hat noch eine Qualität, die den highsmith´schen Kunstwelten abgeht. Nösslers analytische Schärfe, ihr hypergenauer Blick beweist sich an dem, „was der Fall ist“, ganz materiell, unausgesprochen soziologisch, und nicht nur auf psychologische Dispositionen beschränkt. Ihre Prosa korrespondiert mit unser aller Erfahrung, vermutlich deswegen erkennen wir uns so oft in ihren Konstellationen und Konflikten – und das sind keine schönen, aber durchaus Momente schmerzlicher Helle. Schockhafte Flashs, die einen innerlich erröten lassen. Aber bitte nichts verwechseln hier – Regina Nössler fordert nicht zur „identifikatorischen“ Lektüre auf, ihre Figuren sind keine Funktion, kein literarischer Taschenspielertrick, kein „Zielgruppenkalkül“.
Subtiler Horror und tiefschwarze Komik
Selten wurde subtiler Horror so leise und so gekonnt erzählt. Nichts ist schrill, nichts sensationell, aber vieles ist grausam, gemein und entschieden fies. Nössler seziert Unglück in allen grauen Nuancen mit virtuoser Präzision, flicht Katastrophen und Morde beiläufig ein, nie larmoyant, nie von der Schwere des Erzählten erdrückt, nie gefühlig. Sie schafft es, aus einem liegengebliebenen ICE ein Schreckenskabinett zu machen und die Wohnung eines sozio- und agoraphoben Mannes wird nur durch die Beschreibung zum House of Terror, ohne dass Nössler je zu Schock-Elementen greifen muss. Im Gegenteil, die ganze, im Grunde tieftraurige Erzählung, von Außenseitertum, Gewalt in allen Nuancen und Lebenslügen, Kommunikationslosigkeit und psychischer Verwahrlosung durchzieht ein Unterstrom tiefschwarzer Komik. Das auf den ersten Blick Unspektakuläre des Romans ist reine maliziöse Tarnung, das Buch ist mehr als spektakulär, ein absolutes Schwergewicht – und so ziemlich allem weit überlegen, was gerade als „Psycho-Thriller“ daher getrampelt kommt. In einer gerechteren und qualitätsbewussteren Welt auf Platz 1 jeder Besten- und Bestseller-Liste.
Thomas Wörtche
Regina Nössler: Schleierwolken. Roman. Tübingen: konkursbuch 2017. 314 Seiten, € 12,00.