Geschrieben am 1. April 2016 von für Bücher, Kolumnen und Themen, Litmag, News

Sachbuch-Auszug: Markus Metz/ Georg Seeßlen: Hass und Hoffnung

seeßlen_cover_hassundhoffnungEuropa ist eine Fata Morgana

– „Blödmaschinen. Die Fabrikation der Stupidität“ hieß 2011 ihr Frontalangriff auf die Kulturindustrie, 2014 gefolgt vom großen Pamphlet „Geld frisst Kunst. Kunst frisst Geld“. Nun richten Markus Metz und Georg Seeßlen, seit vielen Jahren im Bayerischen Rundfunk und bei diversen Büchern ein gut eingespieltes Team, ihr Augenmerk auf die sogenannte Flüchtlingskrise und deren politische und kulturelle Semantik und Ikonographie. Es ist eine schonungslose Bestandsaufnahme. Alf Mayer hat sich das Buch „Hass und Hoffnung“ zu Gemüte geführt – und lässt die Autoren des Originaltons wegen dann selbst zu Wort kommen. Von Alf Mayer

Europa – das zeigt sich nun – ist eine Fata Morgana. Keine Oase von Frieden, Freiheit, Gastfreundschaft und Solidarität, sondern nur das Trugbild davon. Die Angst vieler Europäer, finden Markus Metz und Georg Seeßlen, richte sich in Wirklichkeit darauf, dies nun selbst erkennen zu müssen: „Ohne es zu wollen, muten uns „die Fremden“ eine sehr unangenehme Wahrheit zu.“ Der eigentliche Weltuntergang geschehe nicht bei den Flüchtlingen, sondern auf der entgegengesetzten Seite. Nämlich dadurch, dass Europa sich abschottet, dass es sich wieder nationalisiert, dass es einen halbfaschistischen Sumpf zulässt und dass die sozialen Ungleichheiten zwischen den Mitgliedstaaten und in den einzelnen Ländern weiter zunehmen. Der EU wird das auf lange Sicht schaden, ja sie vielleicht zerstören, warnen die Autoren: „Indem man Europa in eine Festung verwandelt, verstärkt man diesen inneren Zerfallsprozess. Dessen Ursache sind nicht die Flüchtlinge. Die sind nur der willkommene Brandbeschleuniger von sozialen Konflikten, die vorher schon da waren.“

Offensichtlich, so bilanzieren Metz und Seeßlen, haben weder Deutschland noch Europa es geschafft, eine Gesellschaft zu werden, die sich in einem gemeinsamen Ziel wiederfindet. Wer wollen wir sein, was sind unsere Ideale? Dieses Fehlen halten uns nun die Flüchtlinge sozusagen als Spiegel vor Augen. „Wenn dann immer von deutschen Werten gesprochen wird, empfinde ich das als Perversion. Das ist auch ein großes Versagen unserer Kultur“, sagt Georg Seeßlen. Und er beobachtet, dass manche populäre Intellektuelle (wie etwa Slotderdijk) nun nach rechts überlaufen. Der Philosoph Rüdiger Safranski meint: „Wir lügen uns um die Tatsache herum, dass Europa auch eine Festung sein muss.“ Und er meint auch, die Politik habe die Entscheidung getroffen, „Deutschland zu fluten“. Einen Kulturkritiker wie Seeßlen lässt das natürlich an Theweleit und die „Männerphantasien“ denken. Das Buch wurde vor der Silvesternacht abgeschlossen, die Hellsichtigkeit und politische Analysefähigkeit von Metz und Seeßlen zeigt sich auch daran, dass sie den Diskurs der sexuellen Identität schon vorher sehr wohl in der Diskussion über Flüchtlinge mitschwingen sahen.

Die Utopie der Autoren: Eine Idee von einem Europa, in dem wir wirklich frei und gleich sein wollen. Menschen, die mit der großen Hoffnung auf einen Neuanfang zu uns kommen, könnten die idealen Träger einer solchen Idee sein. Dann könnten die Flüchtlinge Europa möglicherweise vor sich selbst retten. Und vor seiner weiteren Verrohung und Verblödung.

Alf Mayer

Markus Metz / Georg Seeßlen: Hass und Hoffnung. Deutschland, Europa und die Flüchtlinge. Verlag Bertz + Fischer, Reihe Politik aktuell 3, Berlin 2016. 260 Seiten, 19 Fotos, Paperback, 9,90 Euro. Verlagsinformationen zum Buch

Buchauszug: Europa kann sich selber kaum noch ertragen

Hier mit freundlicher Genehmigung ein größerer Auszug aus dem Prolog:

Vom »Flüchtlingsansturm«, von »Fluten«, »Wellen« und, mindestens, »Krisen« ist allerorts die Rede. Doch in Frage steht etwas anderes. Das sind die beiden großen Projekte in unseren Breiten, die nach dem Zweiten Weltkrieg das vorige Jahrhundert bestimmten: Das Projekt »Demokratie«. Und das Projekt »Europa«. Beides steht, wie man so sagt, derzeit auf der Kippe. Ob sich die Protagonisten, die Medien und Diskurse, die Leute wie du und ich das nun eingestehen wollen oder nicht – die Demokratie und Europa werden nicht etwa von den Flüchtlingen bedroht, ganz im Gegenteil: Gerade sie setzen ja ihre Hoffnungen darauf, bevor sie zum »Problem« erklärt werden und ihnen ein Hass entgegenschlägt, der sich weder mit dem einen noch mit dem anderen erklären lässt, sondern nur mit seinem Negativ: mit dem Zerfall der Demokratie und mit dem Zerfall von Europa. Es sind die Flüchtlinge und die Reaktionen auf sie, die deutlich machen, wie sehr sich die Projekte »Demokratie« und »Europa« bereits in Fiktion und Maskerade aufgelöst haben. Uns spukt eine unsinnige alte deutsche Filmklamotte im Kopf herum. Da steht in einem verrauchten bayerischen Wirtshaus ein heimatlich gekleideter Mann auf und spricht zu den Bewohnern seines Dorfes in einer Mischung aus Häme und Verzweiflung: »Wir brauchen keine Fremden nicht. Wir sind uns selber schon zu viel.« Der Satz klingt in nicht-bayerischen Ohren vielleicht abgründiger, als er gemeint war. Und doch scheint er uns gerade die Situation perfekt zu beschreiben: Europa kann sich selber kaum noch ertragen. Und dann kommen auch noch die Flüchtlinge.

Bis vor einigen Jahrzehnten konnte man die Geschichte Europas als die eines – wenn zwar schneckenhaften – Fortschritts in Richtung Demokratie und Humanismus schreiben. Zwar hat es nie an Mahnungen gefehlt, da entstehe nicht das Europa der Millionen, sondern das der Millionäre, aber wer wollte es denn so düster sehen.

Ach, Europa! Auch die Brüsseler Bürokratie mit ihrem »Normierungswahn« konnte eine Zeit als teilparanoide Begleiterscheinung eines langen und langsamen Zusammenwachsens akzeptiert werden. Denn so viel war und ist klar: Die Zeit der Nationalstaaten und ihrer Demokratien läuft ab; wenn etwas hilft, dann nur eine neue, transnationale Form der Demokratie. Eine wirkliche europäische Demokratie, die auf die Verteidigung der Freiheit, auf Gerechtigkeit und Solidarität zielt.

Entstanden ist genau das Gegenteil. Ein postdemokratisches, neoliberales Kuddelmuddel nationaler und oligopolistischer Interessen, ein Experimentierfeld für neue Regierungs- und Verwaltungsformen jenseits demokratischer Legitimierung, gegenseitige ökonomische Erpressung bis an den Rand von Wirtschafts- und Bürgerkrieg, Lobbyismus und die direkte Verschmelzung von Politik und Wirtschaft in groteskem Ausmaß, eine neue Regierungsform, die über das Schicksal der Menschen und der Gesellschaften in Geheimverhandlungen zum TTIP bestimmt, jenseits der Parlamente, jenseits der Öffentlichkeit, jenseits der Demokratie: Das Projekt »Europa« ist als Euro-Zone auf den Hund gekommen.

Das, was man nun, unmenschlich genug, als »Flüchtlingsstrom«, »neue Völkerwanderung«, »Flüchtlingskrise« bezeichnet, macht vielleicht auch jenen klar, die die Hoffnung auf dieses Projekt nicht aufgeben wollten, dass es nicht nur gescheitert ist: Europa hat sich nicht als kultureller und politischer Fortschritt, sondern als barbarischer, korrupter und amoralischer Rückfall realisiert.

Dieses Scheitern hat jetzt Bilder: ertrunkene Menschen, offene Polizeigewalt allerorten, Lager, Stacheldraht, brennende Unterkünfte, grölende Faschisten, furchtbarer Politiker-Jargon. Es gibt Menschen und Institutionen, die helfen, keine Frage. Aber sie können es weder praktisch noch moralisch im Namen Europas tun.

Wie rasch konnte Europa seine exekutiven Mittel aktivieren, als es um die Rettung von Banken ging, und wie sehr blockiert und verschleppt man nun die nötigen Maßnahmen, wo es um Menschenleben geht: Hier wird ein Notstand inszeniert. Wäre Europa, was es einmal zu werden versprach, dann wäre die Aufnahme der Flüchtlinge, ihre menschenwürdige Versorgung, ihre Integration in Arbeit und Kultur kein Problem, sondern eine jener Aufgaben, an denen man wachsen und reifen kann: Es hätte hier eine neue Gesellschaft entstehen können; Europa nicht als verfallende Festung von Begünstigten, die nicht einmal ihre Privilegien genießen können, weil sie sie sich gegenseitig nicht gönnen, sondern als Idee einer neuen (und doch eben auch historisch entstandenen und überdachten) Gemeinschaft der freien Menschen. Nichts Perfektes, nichts Konfliktfreies, nichts Idyllisches. Nur etwas, das wirklich hat, wovon die leere Rede ist: humanistische Werte. Nun wird sichtbar, wie dünn die demokratische Haut über der merkwürdigen Verbindung der neoliberalen Rücksichtslosigkeit, die auch Menschen nur noch marktförmig sehen kann, und dem rechtspopulistischen, halbfaschistischen Untergrund ist, der sich durch ganz Europa zieht und der bei immer mehr Menschen Anklang findet, denen Europa keine große Zukunft, aber eben auch keine noch so rudimentären »Werte« vermitteln konnte. Und welch erbärmliche Rolle spielt Deutschland in diesem Europa, das nur sein eigener finsterer Schatten ist! Man zwingt mit allen, wirklich allen Mitteln eine linke griechische Regierung nieder, die es wagt, sich gegen Neoliberalismus und Austerität zu stellen, und gleichzeitig lässt man ein autoritäres und rassistisches Regime wie das ungarische oder die neue polnische nationalklerikale Regierung ohne Widerspruch gewähren.

Die galoppierende Entdemokratisierung Europas lässt die eigene Demokratie-Simulation in besserem Licht erscheinen.

Menschen, deren Lebenswelt nicht ohne Zutun Europas in eine Hölle verwandelt wurde, suchen Zuflucht in diesem Europa und finden, wenn sie Glück haben, Politiker vor, die Abschiebung, Rückführung und Abschreckung im Munde führen, von »Abschiebelagern« reden, ohne vor Scham im Boden zu versinken, und Souveränität simulieren, indem sie Flüchtlinge wie lästige Kostgänger behandeln, ihnen Arbeit, Bildung, Selbstbestimmung verweigern. Wenn sie Pech haben, finden sie nur eine neue Hölle. Eine Hölle namens Europa.

Die europäischen Nationalstaaten machen nicht nur Politik für oder, vor allem, gegen die Flüchtlinge, sondern sie machen sogar Politik mit den Flüchtlingen. Macht- und Wirtschaftspolitik mit hilfsbedürftigen, rechte- und machtlosen Menschen zu treiben ist das Ende jeder humanistischen und demokratischen Gesellschaft.

Wir wissen nicht, ob dieses Europa noch zu retten ist.

Man ist, nur weil man »links« ist, nicht unbedingt zum Optimismus verurteilt. Aber offensichtlich hat, was in der letzten Zeit geschehen ist, die einen oder anderen Augen geöffnet, auch wenn sich nach der »Kölner Silvesternacht« das politische Klima in der Flüchtlingsfrage weiter nach rechts verschoben hat. Den Flüchtlingen zu helfen, hier und jetzt, ist die erste Bürgerpflicht. Die zweite ist es, Europa neu zu denken. Von Grund auf.

Und die dritte Aufgabe besteht darin, eine Gesellschaft zu erkämpfen, die auf Solidarität, Egalität und realer Demokratie basiert.

Markus Metz/ Georg Seeßlen

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