Geschrieben am 3. Oktober 2016 von für Bücher, Litmag, Nachruf

Sachbuch: Bauer/Frischknecht: Antipasti und alte Wege

Bauer-Frischknecht_Antipasti 8_UG.indd„Grabe, wo du gehst, genieße, wo du ruhst“

Zusammen mit Ursula Bauer hat Jürg Frischknecht die Lesewanderbücher erfunden, einen Buchtyp, der deutlich über die aktuelle Gebrauchsfähigkeit hinausreicht, der kulturelle, politische und wirtschaftliche Hintergründe bietet und im idealen Fall – wie im verlassenen piemontesischen Valle Maira – sogar einen sanften Tourismus mitangekurbelt hat. Alf Mayer, der sich von der Qualität dieser Bücher einige Male selbst vor Ort überzeugen konnte, hat sich die aktuelle achte Auflage des Hauptwerks „Antipasti und alte Wege. Valle Maira – Wandern im andern Piemont“ angeschaut. Leider ist es auch ein Nachruf geworden.

Linke haben teilweise einen ziemlich guten Geschmack. Jürg Frischknecht war so einer, ihm habe ich so einiges an guter Einkehr in einfachen und guten Gaststuben und manche Einsicht in gesellschaftliche Verhältnisse zu verdanken. Noch immer denke ich da zum Beispiel an ein Lokal in den Piemonteser Bergen, wo Brennnesseln die Grundlage aller Gerichte bildeten. Ganz wunderbar. Und was ich von ihm alles über die Berg- und Almbauern und das Leben im gebirgigen Hinterland gelernt habe. Das seit gut 4000 Jahren besiedelte Tal ist eine der am stärksten von Landflucht und Abwanderung betroffenen Regionen Italiens und des Alpenraums.

Durch Jürg Frischknecht war ich damals Mitte der 1990er ins Valle Maira gekommen, ein entvölkertes Gebirgstal an der Grenze zu Frankreich, das für immer Eindruck auf mich gemacht hat. Jetzt im Juli 2016 ist Jürg Frischknecht gestorben, 69 Jahre alt. Immerhin die Druckfahnen seiner gerade zum achten Mal überarbeiteten Valle-Maira-Bibel hat er noch erleben können. Er war ein Ausnahmejournalist, seine Bücher erschienen im Limmat- und Rotpunktverlag. Er legte größten Werte auf seine geistige Unabhängigkeit, hat immer wieder den Finger in die rechtslastige Seite der Schweiz gelegt und gehörte 1981 zu den Gründern der links-unabhängigen Zürcher Wochenzeitung „WoZ“, in der er Polizeispitzel in der Jugendbewegung enttarnte und den Bau von Atomkraftwerken kritisierte.

1976 war er dabei, als einige Linke in ein Geheimarchiv eindrangen und in der Folge rechte Netzwerke in der Schweiz offenlegten. Er war Coautor von „Die unheimlichen Patrioten. Politische Reaktion in der Schweiz“ und des Folgebuches „Rechte Seilschaften“, war Mitverfasser auch von „Die unterbrochene Spur“ (1983) über die antifaschistische Emigration in der Schweiz von 1933 bis 1945 – und dann ab 1995 näherte er sich der Welt zusammen mit seiner Lebensgefährtin Ursula Bauer in den Wanderlesebüchern. Das war keineswegs eine Abkehr vom Politischen, nur ein anderer, eben fußläufigerer Zugang. Diese Bücher erhellen politische, historische, kulturelle Zusammenhänge und vermitteln, was ihnen wichtig war: dass man die Infrastruktur stärkt, das lokale Gewerbe und die Region unterstützt. Diese Bücher, meinte ein WoZ-Weggefährte, „sind ein Gesamtkunstwerk, es verbindet das Private, das Sinnliche und den Genuss mit politischem und ökologischem Engagement“.

frischknecht-cover121-titelbildStatt eines Nachrufs

Andreas Simmen, Programmleiter des Rotpunktverlags, fasste die Wanderbücher von Ursula Bauer und Jürg Frischknecht so zusammen: „Diese Fußreisen erweitern den Horizont – vorausgesetzt, man begreift die Dinge, die man beim Gehen in der Landschaft sieht. Dieses Begreifen ermöglichen Bauer/Frischknechts Wanderbücher. Neu war auch der Umfang dieser Wanderbücher, der den Verlag am Anfang leer schlucken ließ. Neu war die Bebilderung: nicht prächtige bunte Landschaftsbilder, sondern vor allem historische Fotos, Kupferstiche, alte Karten, Dokumente; die Bilder sollten zeigen, was man nicht selbst auf dem Weg sehen kann. Und neu war eine wunderbare Zusammenarbeit zweier Persönlichkeiten, die aus unterschiedlichen Welten kamen, sich fanden und gemeinsam etwas Homogenes schufen. Nicht mit lauter Kompromissen, um beiden gerecht zu werden, sondern indem sie zwei Horizonte zu einem großen Horizont zusammenfügten.

Diese Bücher sind Ausdruck einer Lebensphilosophie, die aus vielen Elementen besteht: Neugier, genaue Beobachtung, Aufmerksamkeit, Empathie, Gerechtigkeitssinn, Genussfähigkeit, Liebe zu den Menschen und zum Leben. Diese Lebensphilosophie erschließt sich Leserinnen und Lesern in jedem der ‚vierhändig‘ geschriebenen Bücher des Autorenpaars Ursula Bauer und Jürg Frischknecht. Sie erschließt sich in den Hunderten von Geschichten aus dem Veltlin, Bergell, Valle Maira, Vinschgau, bis hin zu den Geschichten über die Entstehung der Schweiz in und um die Mittellandstädte Solothurn, Olten und Aarau, dem letzten gemeinsamen Werk.“
Geschichten werden ‚ausgegraben‘. „Grabe, wo du gehst, genieße, wo du ruhst“, lautete das Motto im Vorwort zur ersten Auflage von „Grenzschlängeln“. Und so hat alles begonnen: „Während eines milden Brachmonats in einer ligurischen Winterfrische lüfteten wir unser Hirn, studierten Karten und lasen viel. Nach der Schneeschmelze begannen wir zu wandern…“

valle_maira-wiki-commons

Rot: das Gebiet des Valle Maira (Abb.: Wiki-Commons)

Eine Landschaft, der leider die Leute davongelaufen sind

„Antipasti und alte Wege. Valle Maira – Wandern im andern Piemont“ erschien 1999 zum ersten Mal. Das Tal liegt zwischen Cuneo und Frankreich auf der Alpensüdseite, wo man schon im Mai und auch noch im Oktober wandern kann. „Eine unglaubliche Vielfalt von Landschaften, von bewaldeten Hügeln über südliche Trockenhänge bis zu den Dreitausendern… Eine Landschaft, der leider die Leute davongelaufen sind, wo verlassene Weiler in Wäldern versinken … Das schwarze Loch Europas, la buca nera d’Europa, mit einer Bevölkerungsdichte wie in Alaska … wo man möglicherweise den ganzen Tag niemandem begegnet, außer vielleicht einem Schäfer oder einem Rentner, der das frühere Elternhaus in Ordnung hält und wissen will, wie es uns hier gefällt“, schrieben Ursula Bauer und  Jürg Frischknecht in der Erstauflage im April 1999. Im November des gleichen Jahres schon gab es eine erweiterte zweite Auflage. Ihr Buch sollte handfest nutzbar sein, war die Devise der Autoren. Heute sind Aktualisierungen sofort gleich im Internet zugänglich.

Im und rund um das Valle Maira gibt es ein faszinierendes altes Wegenetz, das über weite Strecken noch intakt ist. Man kann dort zwei Wochen unterwegs sein, ohne je zur Talstraße absteigen zu müssen. Und Abend für Abend locken einfache Locandas und Herbergen mit regionaler Küche. Die achte Auflage enthält zusätzlich zwei alte, fast vergessene Verbindungswege: die Querung des Elva-Canyons (aus dem sich einmal eine Begleiterin in Grausen wandte, weil das eine idealtypische Schlucht wie aus einem Nachtmahr-Bild von Johann Heinrich Füssli ist) sowie den Höhenweg von Droneretto nach Cheste. Der Kölner Fotograf und Maira-Stammgast Norbert Breidenstein hat drei Fotoessays beigesteuert. (Das Wanderlesebuch „Grenzland Bergell. Wege und Geschichten zwischen Maloja und Chiavenna“ von 2003 erschließt übrigens die Maira im schweizerisch-italienischen Gebiet.)

Schützende Hand, sanfter Tourismus

Ausgangspunkt der Antipasti-Reise ist die Provinzhauptstadt Cuneo, die mit einem gewaltig großen barocken Platz, der Piazza Galimberti, überrascht. Unter den Arkaden des Corso Nizza und in den Nebengassen der Via Roma gibt es viele kleine Geschäfte und Trattorien, es lässt sich hier so gut einkaufen und speisen wie in der Langhe, dem Herz von Slow Food südlich von Alba. Weiter drinnen dann schon im Gebirge, im Ortsteil Bassura von Stroppo, schafft das „Lou Sarvanot“ es seit über 25 Jahren, immer wieder im Restaurantführer von Slow Food vorgestellt zu werden. Solch eine Kontinuität gelingt nur wenigen Lokalen, denn jedes Jahr muss das neu durch regionale Qualität erarbeitet werden. Ursula Bauer und Jürg Frischknecht weisen auf dieses Lokal nicht hin (ich hier mit der weit kleineren Öffentlichkeit kann mir das erlauben); über Manches halten sie klar ihre schützende Hand, sie wollen den reichen Schweizern, die sich im Piemont proviantieren, nicht unbedingt einen Schnäppchenführer bieten. Also fehlt auch ein Hinweis auf jene noch drei Gebirgstal-Molkereien, die den Castelmagno herstellen, gegen den noch der edelste Parmesan verblasst und der dem besten Risotto den feinen Schliff gibt. Oder auf jenen Borgo auf dem Weg nach Ligurien, wo es stets 28 Antipasti gibt. Aber das sind eh nur die Freuden der Ebene, die der Höhen und der Wanderwege, die finden sich im Wanderlesebuch.

Alf Mayer

Ursula Bauer, Jürg Frischknecht: Antipasti und alte Wege. Valle Maira – Wandern im andern Piemont. Mit Fotos von Norbert Breidenstein, historischen Bildern, Routenskizzen und mit Serviceteil. Rotpunktverlag, Zürich 2016. 8., aktualisierte und erweiterte Auflage, 304 Seiten, Klappenbroschur, 29,00 Euro. Verlagsinformationen. Information zu den Autoren. Ihre Bücher beim Rotpunktverlag. Nachruf auf den linken Journalisten.

Bücher von Jürg Frischknecht (1947 – 2016):
Kommerz auf Megahertz? Dossier Radioszene Schweiz (1980, mit Walo von Büren)
Die unterbrochene Spur: Antifaschistische Emigration in die Schweiz von 1933 bis 1945 (1983, mit Mathias Knauer)
Wandert in der Schweiz, solang es sie noch gibt : Ein Wanderbuch für 35 Lokaltermine (1987)
Rechte Seilschaften : Wie die „unheimlichen Patrioten“ den Zusammenbruch des Kommunismus meisterten (1989, mit Peter Niggli)
Schweiz wir kommen: Die neuen Fröntler und Rassisten (1991)

Jürg Frischknechts Wanderlesebücher, zusammen mit Ursula Bauer:
Grenzschlängeln. Routen, Pässe und Geschichten, zu Fuss vom Inn an den Genfersee (1995, mit Ursula Bauer)
Antipasti und alte Wege in der Valle Maira (1999, mit Ursula Bauer; inzwischen 8. Auflage, 2016)
Bäderfahrten : wandern und baden, ruhen und sich laben (2002)
Grenzland Bergell. Wege und Geschichten zwischen Maloja und Chiavenna (2003)
Veltliner Fussreisen. Zwischen Bündner Pässen und Bergamasker Alpen (2007)
Auswanderungen : Wegleitung zum Verlassen der Schweiz
(2008)
Schüttelbrot und Wasserwosser. Wege und Geschichten zwischen Ortler und Meran (2011)
Wandern in der Stadt Zürich (2012)
Solothurn Olten Aarau. Zwischen Aare und Jura: Wandern, wo die Schweiz entstand (2015)

frischknecht-cover124-titelbildfrischknecht-cover120-titelbildfrischknecht-cover-bergell8-titelbildfrischknecht-baeder123-titelbild

 

 

 

 

 

 

Tags : , , ,