Geschrieben am 26. Februar 2011 von für Bücher, Crimemag

Stefan Kiesbye: Hemmersmoor

Schaurig, schaurig…

Huuubuuu, auf´m Dorf geht´s ab. Mord und Unzucht, Leichenberge …. Thomas Wörtche hat sich schwer geschaudert…

Am Anfang pisst eine Frau auf das Grab einer frisch verstorbenen Jugendfreundin. Das ist nicht nett und ein klein bisschen drastisch. Ein Hingucker auf jeden Fall.

Damit beginnt der Roman „Hemmersmoor“ von Stefan Kiesbye, der laut Paratext (hier: Klappentext) ein „Schauerroman“ sein soll. Mit Paratexten will man Rezeptionen vorgeben, was allerdings nur bei einem arg naiven Publikum funktioniert, wenn Paratext und Text derart erstaunlich inkongruent sind.

In „Hemmersmoor“ passieren auf schmalen 206 Seiten folgende Gräueltaten: Lynchmord an einer mehrköpfigen Familie nebst Abfackeln des Anwesens, Schwesternmord, Inzest und Vatermord, Mobbing und irgendwie in den Tod treiben, gezielt in den Tod treiben, einen Wahnsinnigen unter Verschluss halten, spurloses Verschwinden, Ehebruch und neunfacher Kindsmord (Säuglingsskelette im Blumentopf, wie vor ein paar Jahren der Boulevard-Presse zu entnehmen), Verstümmelung, Mord und Kindsmord, Vergewaltigung (gar einvernehmlich, wenn das Paradox erlaubt ist), Bigamie. Nicht mitgerechnet wenig lustvolle Orgien, Klemm- und masochistischer Sex, „Unzucht“ in allen Lebenslagen, Betrug, Bösartigkeit, Kaltherzigkeit, Neid, Missgunst – und als Gag am Ende Kollektivschuld, zumindest angedeutet, weil in unmittelbarer Nähe von Hemmersmoor wohl ein Lager aus der Nazi-Zeit gestanden hat, das von den Bürgern unseres Horrordorfes damals mit allerlei Viktualien etc. beliefert wurde.

Nix als Untaten

Vermutlich hab ich jetzt auch noch ein paar Untaten vergessen, aber das macht nichts, man muss das Buch nur aufklappen, schon springen sie einen an. Beinahe muss man an Pieter Bruegels Gemälde „Die niederländischen Sprichworte“ (ca. 100 Sprichworte, wörtlich genommen, und über die Klammer „Dorfleben“ anekdotisch inszeniert) denken, so viele einschlägige böse Dinge packt Kiesbye in seinen Roman – aber das wäre eine Frechheit dem Ingenium Bruegels gegenüber.

"Die niederländischen Sprichwörter", Pieter Bruegel d. Ältere, 1559 (Berliner Gemäldegalerie)

„Hemmersmoor“ spielt, bis auf Pro- und Epilog – die in der Jetztzeit angesiedelt sind – in den 1950er und 1960er Jahren. Durch ein paar Eckdaten – Flüchtlinge aus Ostpreußen, Offiziersfamilie auf dem Gut, dem Lager, das dann später als Aussiedlerlager für DDR-Flüchtlinge dient – ist die Handlung des Romans zeitlich und räumlich (in der Nähe von Hamburg) definiert, obwohl andere Realitätsausschnitte sehr lauthals nicht vorkommen: Hemmersmoor scheint keine Medien zu kennen, kein Telefon, kein Radio, keine „Moderne“, der Dorfpolizist kann anscheinend schwerste Verbrechen handhaben, ohne dass Kontrollinstanzen von außen ins Dorf hineinschauen würden.

Aber anti-mimetisch, a-realistisch ist das alles nicht gemeint, denn die harten Zeitläufte, die Realien der bundesdeutschen Nachkriegsgeschichte sollen schon eine konstitutive Rolle spielen. Hemmersmoor ist ja kein Auenland und somit keine neutrale, a-historische Spielfläche für die Conditio humana oder andere Übungen in Allgemeinmenschlichkeiten. „Hemmersmoor“ ist ganz einfach inkonsistent.

Inkonsistent

Inkonsistent auch die Aufsplitterung in verschiedene Erzählstimmen: Fünf ungefähr gleichaltrige Menschen, zwei junge Frauen, drei junge Männer, erzählen kapitelweise die manchmal selben, manchmal verschiedenen Vorfälle. Allesamt hängen mit den oben genannten Gräueltaten zusammen, die die jeweiligen Erzähler auch hin und wieder selbst anrichten. Nur: Wenn man nicht, durch die Kapitelüberschriften gelenkt, wüsste, wer gerade was erzählt, wäre man hilflos. Die Unterschiede zwischen den Stimmen kann man nämlich nur an den Erzählinhalten, nicht an der Sprache festmachen. Keine Soziolekte, keine sprachlichen Eigenheiten, keine Manierismen, keine Sprachgewohnheiten, keine kategorial unterschiedlichen Sichtweisen auf die Welt und die Ereignisse (z.B. komisch, zynisch, empathisch, hysterisch – was auch immer) – die Figuren bewegen sich wohltemperiert auf dem gleichen Sprachlevel. Und dieses gleichgeschaltete Level kommt hin und wieder aufgeplustert und handwerklich nicht ganz geschickt daher: „Warum ich zurückkam, vermag ich nicht zu denken. Es mag mit dem Tod…“

Übersinnliches, Fantastisches, sei es der Caillotsche „Riss“ in der Wirklichkeit oder die Todorovsche „Unschlüssigkeit“ (also die beiden essentiellen Kategorien bei der Definition des Fantastischen in literarischen Texten, zu denen der „Schauerroman“ strukturell gehört) gibt es in „Hemmersmoor“ nicht. Natürlich gibt es Hysterie, Aberglaube, Spökenkiekerei, Gerede von Hexen und Zauberei in Hülle und Fülle – aber das ist lediglich Thema, erzählter Stoff und in diesem Zusammenhang kein Genremerkmal.

Die aufgehäuften Gräueltaten sind allzu irdisch. Insofern offeriert „Hemmersmoor“ lediglich die übliche Überbietungsnummer, die wir bei Serialkiller-Romanen schon seit Jahrzehnten gelangweilt beobachten, hier durchexerziert am Country noir. Dass das Dorf kein locus amoenus ist, sondern ein Abgrund menschlicher Untugend, wissen wir schon lange, dass Verbrechen & Gewalt gerade in abgeschlossenen Gemeinden wuchert und blüht, ist allerspätestens seit Hawthorne ein Topos. Georges Simenon hat großartige Kriminalromane daraus gemacht, Alfred Komarek hat die schwarze Dorfgeschichte in die üble Jetztzeit transponiert, Chabrol & Co. maliziöse Filme aus dem mörderischen Dorfleben gemacht. Wir kennen dergleichen von Pierre Magnan, von Charles Todd, von Guillermo ArriagaJean-Patrick Manchette schließlich hat alles auf die Spitze getrieben und weidlich persifliert.

Stefan Kiesbye hat es jetzt eben als deutsche Variante des Heimatgrimmis versucht.  Grimmi noir aber funktioniert nicht so richtig. Die Häufung der Gräueltaten, die man, hat man kapiert, wie das Buch läuft, schon ab Seite 30 voraussehen kann, ist unfreiwillig komisch. Wann kommt der Inzest? Wann der Kindsmord? Wann der Irre?  Und schon – boing! – werden alle Topoi aus dem Katalog nachgerade buchhalterisch penibel abgearbeitet.

Kein Hauch von Ironie, kein Gran Komik, kein Millimeter Abstand, sondern nur bleiernes Schicksalsdräuen machen den Roman ziemlich ungenießbar. Dass die boulevardnotorischen Säuglingsskelette im Blumentopf auftauchen, ist in diesem Kontext schon beinahe das, was Kant „abgeschmackt“ nennt. Dass am Ende noch ein Nazi-Lager (in welcher Funktion: Begründungsfolie für das Böse? Ein Gag? Makabre Pointe?) als Top-Horror präsentiert werden muss, das allerdings schon während des ganzen Buches auf einem Foto durch die Handlung geisterte und nach Aufmerksamkeit heischte, ist weder provokant noch schockierend, sondern nur öde.

Vielleicht hat Kiesbye autobiographische Obsessionen mit diesem Roman bearbeitet  – er stammt (vielleicht irre ich mich auch) wie sein Rahmenerzähler aus der norddeutschen Provinz und war ebenfalls nach USA ausgewandert. Interessieren muss uns ein solcher autotherapeutischer Aspekt nicht übermäßig, weil das Buch viel zu sehr auf einen vermeintlichen Markt-Trend zur Dorfgeschichte („Tannöd“) schielt und diesen Trend einfach mit Gräuelhäufung zu toppen versucht. So entsteht kein Schauerroman – sorry, dieser Paratext ging daneben – sondern höchstens ein ziemlich schauriger Text.

Thomas Wörtche

Stefan Kiesbye: Hemmersmoor.Roman. Stuttgart; Klett-Cotta/Tropen 2011. 207 Seiten,  17,95 Euro
Verlagsinformationen mit Leseprobe und Trailer

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