„Das Gold am Ende des Regenbogens ist der Mörder“
Die irische Autorin Tana French hat mit ihrem neuesten Roman Totengleich einen dicken Schmöker für den Urlaub fabriziert, der sich leicht liest und an dem es erst einmal überhaupt nichts auszusetzen gibt: Ein altes Herrenhaus, eine mysteriöse Doppelgängerin, gefährliche Liebschaften und eine Heldin aus dem 21. Jahrhundert ergänzen das Tableau zum Mord und betten ihn in eine schauerromantische Kulisse. Aber … Nadja Israel ist enttäuscht.
Beim Lesen wird man das Gefühl nie ganz los: Tana French schreibt zu viel, satte 784 Seiten sind eindeutig zu lang, um endlich zum entscheidenden Punkt zu kommen. Es vergehen schließlich 200 Seiten, bis die Heldin ihren Polizeieinsatz endlich beginnen darf.
Zum Plot: Die junge Polizistin Cassie Maddox wird zu einem mutmaßlichen Tatort, einem alten Cottage in den Bergen gerufen und muss in dem Opfer ihr eigenes Spiegelbild erkennen. Maddox’ frappierende Ähnlichkeit mit der Toten bringt die irische Kriminalpolizei auf die Idee, die Kollegin als Undercoveragentin in das (ehemalige) Umfeld des Opfers einzuschleusen. Es folgen haarsträubende Schilderungen, wie Cassie Maddox auf den bevorstehenden Einsatz vorbereitet wird, um ihre Rolle glaubwürdig spielen zu können. Seite um Seite wird mühsam ausgebreitet, wie anhand von Zeugenaussagen und Handyfilmchen fragwürdige psychologische Profile erstellt werden, um damit die Basis für Cassies dubiose Undercoverarbeit zu schaffen.
Undercover
Der Leser folgt der Ich-Erzählerin auf labyrinthischen Spuren durch ihr neues Leben und ihre Ermittlungen. Das liest sich immerhin spannend und macht den abstrusen, unwahrscheinlichen und sehr konstruierten Plot für eine Weile vergessen. Tana French legt unaufhörlich neue Spuren, die zum Täter oder den Tätern führen könnten – innerhalb der Studentenwohngemeinschaft, in der biografischen Vorgeschichte der Ermordeten Lexie und auch im geografischen Umkreis des Herrenhauses mit seiner fantastischen Märchenatmosphäre. Aber nur metaphernschwer und anspielungsreich geht der Roman voran und so krankt der Schauerkrimi an dem Zuvielgewollten. Interessante Ideen werden verwässert oder aufgeblasen und letztlich bis zur Simplifizierung durchexerziert.
Dabei stünden durchaus interessante Themenkomplexe zur Verfügung: Welche psychischen Konditionierungen sind notwendig für Cassies Form der Undercoverarbeit, für diese Rolle eines Lebens ohne Vergangenheit?
Wie ist sie beschaffen, diese Frau ohne Eigenschaften, deren Platz Cassie Maddox besetzt? Und: Bringt Maddox als Person genug Eigenes mit, um sich in dem geborgten Selbst zu bewahren? Denn würde sie erkannt, rettet und garantiert dies zwar eine private Cassie, bedeutet aber den Tod für die Polizistin.
Das kleine, katholische Irland
Daneben geht es in diesem Roman auch um die traurige und entbehrungsreiche Geschichte des kleinen, katholischen Irlands, das in den letzten zwei Jahrzehnten, umarmt von der EU, einen unglaublichen wirtschaftlichen Aufschwung erleben durfte und sich nun mit den Folgen eines neoliberalen Kapitalismus konfrontiert sieht (das Buch spielt vor der Finanzkrise). Tana French kombiniert und verschachtelt die komplizierte irische Geschichte, die von der britischen Fremdherrschaft eh schon gebeutelt ist, mit den aktuellen Methoden und Vorstellungen heutiger Immobilienhaie.
French macht auch darauf aufmerksam, dass dabei die Gesellschaft nicht viel Zeit hatte, ihren Wertekodex zu überprüfen oder verändern zu können. Nach wie vor sind die Indikatoren, um aus dieser Gesellschaft an den Rand gedrängt zu werden, Schwangerschaft und Kind.
Fruchtbarkeit?
Ob durch religiöse Strenge oder durch ökonomische Notwendigkeit – in der von Tana French gezeichneten Welt haben alleinerziehende, freiheitsliebende und selbstbestimmte Mütter keinen Platz. Frauen können so lange intellektuelle Partner, kumpelige Freunde oder erotisch aufgeladene Gegnerinnen abgeben, solange sie das (Krimi-)Spiel nicht durch ihre Fruchtbarkeit stören. So verfällt die gedoppelte junge Frau in diesem Roman (aber auch die Männer ringsum) unter Aussparung der Frage nach Mutterschaft und Familie einem Freiheitsideal, das es ihnen möglich macht, Schritt zu halten mit einer schönen, neuen, rasanten Welt voller Wahlmöglichkeiten.
Nach eigener Aussage verfolgt Tana French mit ihrem Roman die Intention, die Komplexität der „menschlichen Seele“ darzustellen, statt „Effekthascherei“ zu betreiben. Somit versucht Totengleich der Roman des Opfers zu sein, das aus seiner Statistenrolle gehoben, zum Teil mit der Figur des Ermittlers verschmolzen, den Mörder vergessen machen soll.
Die Frage, wer Lexie umgebracht hat, gerät bei fortschreitender Handlung wirklich zur Nebensache. Das ist eine der interessantesten Komponenten des Romans. Aufklärer, Täter und Mittäter nähern sich einander an, die Grenzen verschwimmen und das perfekte Opfer in diesem spezifisch irischen Kontext ist eine junge Frau ohne Identität oder nachweisbare Herkunft und ohne Ziel – aber schwanger!
Schade
Und ihre Doppelgängerin, die eigentliche Heldin? Cassie Maddox möchte eigentlich zu Beginn des Romans nicht länger beim Morddezernat arbeiten und aus der Welt der Risiken, moralischen Dilemmata und Komplikationen flüchten. Resignativ sucht sie ihren Frieden, ironischerweise bei der Sittenpolizei. Das neue, undercover von ihr gemietete Leben eignet sich für sie, eine Halbwaise, wunderbar, um als Agentin zu arbeiten: sich letztlich nahtlos in das Leben einer anderen Person begeben, den Kick erleben, nicht entdeckt zu werden und wie ein psychologisches Modell zu funktionieren, beliebig bespielbar je nach Gegenüber.
Tana French hat in ihrem Roman viele interessante Ansätze zu klugen und unterhaltenden Ideen. Leider ist sie ihren eigenen Ansprüchen nicht gewachsen und so ist ihr psychologisches Spiegelkabinett nur verwirrt und nicht verwirrend – gefüllt mit Doppelgängern, Wiedergängern und historischen Wiederholungszwängen. Banale red herrings und langatmige unmotivierte Erläuterungen quälen den Leser regelrecht gegen Ende der Lektüre. Da wünscht man sich beim Zuklappen des Buches, die Autorin hätte es ausgehalten, die Dinge nicht alle restlos aufzuklären! Was spricht dagegen, es bei dem „Mädchen, das aus der Fremde kam“, zu belassen? Um das Banale akribisch zu vervollständigen, wird das Ungewisse, Unwahrscheinliche und Rätselhafte der Story mit dem Bohnerwachs trivialer Lösungen, wie die Verlobung der Ermittlerin und ihre Rückführung in die Gesellschaft, glänzend überpoliert. Schade!
Nadja Israel
Tana French: Totengleich (The Likeness, 2009).
Aus dem Englischen von Ulrike Wasel und Klaus Timmermann.
Frankfurt am Main: Scherz Verlag 2009. 784 Seiten. 16,95 Euro.