Geschrieben am 10. April 2010 von für Bücher, Crimemag

Tarquin Hall: Die verschwundene Dienerin: Ein Fall für Vish Puri

„Ich will nicht depressiven Schweden beim Sex zuschauen“

„Global Crime“ ist eine gut funktionierende Formel. Indien ein sehr schön exotischer Schauplatz. Allerdings liegt dafür seit den Zeiten von H.R.F. Keatings Romanen um Inspector Ghote die Qualitätshürde ziemlich hoch. Der britische Autor Tarquin Hall hat sich Jahrzehnte später (und Jahre nach Patrick Boman) ebenfalls diesen Schauplatz ausgesucht, Henrike Heiland hat sich Buch und Autor angeschaut …

Wenn es etwas gibt, womit der britische Journalist und neuerdings Krimiautor Tarquin Hall überhaupt gar nichts anfangen kann, dann mit geschiedenen, alkoholisierten und depressiven Ermittlern, die bei schlechtem Wetter in einem kalten Land Dinge tun. Wie zum Beispiel grundlos mitten im Gespräch mit jemandem Sex zu haben. So jedenfalls kommt es ihm vor, wenn er sich durch die aktuelle Bestsellerkrimilandschaft liest, und das verstört ihn einigermaßen. Wirklich gut hat er sich nie mit Krimis ausgekannt, er würde sich nicht als eifrigen Krimileser bezeichnen, aber er holt jetzt, da er selbst welche schreibt, ein wenig auf. Vorhin hat er sich aber einen Erzählband von Mark Twain gekauft. Offenbar brauchte er eine Pause von den depressiven Ermittlern, wenn er schon graues deutsches Wetter haben muss. Das sagt er zwar nicht, aber wir sind in Hamburg, und es fängt gerade an, uns in den Tee zu nieseln.

Lustige Bücher

© Antonio Olmos

Hall selbst schreibt lustige Bücher. Nicht krachledernlustig wie es der deutsche Regiokrimi gerade so gerne mag, sondern auf eine respektvolle, charmante Art. Schauplatz seiner Bücher ist Indien, wo er lange Jahre lebte, wo er immer noch viel Zeit verbringt, weil seine Frau, eine BBC-Reporterin, Inderin ist. Und er beschreibt dabei ein chaotisches Land irgendwo zwischen verstümmelten Bettlern und diamantenbesetzten Toilettensitzen, zwischen Bergdörfern ohne Kanalisation und unüberschaubaren Millionenstädten. Wo es feste Hierarchien gibt und jeder Mensch durch seine Sprache und sein Äußeres sofort zu erkennen gibt, welchen Platz er in der Rangordnung hat.

Die Feinabstufungen ergeben sich dann im Gespräch, erzählt Hall. Wenn man beispielsweise mit Geschäftsleuten spricht, die alle erst mal eine vergleichbare Stellung innehaben könnten, stellen diese gleich bei der Begrüßung sicher, wer sie Wichtiges sind, was sie Wichtiges gemacht haben und wo ihre Kinder teuer und wichtig studieren. Britisches Understatement ist fehl am Platz. Stolz ist das Schlüsselwort, und Hall liebt den Stolz der Inder, ist ganz vernarrt in ihrer Prahlereien. Alles, was er so sehr an den Menschen und dem Land liebt, findet seinen Weg in das Buch. Alles, was er verheerend findet, ebenso. Ein Buch über Indien wollte er schreiben, sagt der Autor. Aber wen hätte ein weiteres Sachbuch interessiert? Sachbücher hat er schon geschrieben, mit großem internationalem Erfolg, aber diesmal wollte er mehr Leser erreichen.

Lustige Anekdote

Und wie kam es dann zum Krimi, wenn er schon selbst kein großer Krimileser ist? Die Antwort ist eine lustige Anekdote, die er immer erzählt, wenn er danach gefragt wird: Eine Cousine seiner Frau sollte verheiratet werden. Arrangierte Hochzeiten sind in Indien nach wie vor an der Tagesordnung. Da sich in den Städten aber die Familien gegenseitig nicht oder kaum kennen, engagieren sie Privatdetektive, die schamlos das Leben der zukünftigen Bräute und Bräutigame auskundschaften. In Indien heiratet man nämlich nicht nur eine Person, sondern gleich die ganze Familie. Deshalb ist es wichtig, dass alles zueinander passt. Tarquin Hall selbst findet das sehr vernünftig, Liebe vergeht schließlich irgendwann, sagt er, und dann muss ja noch was übrig sein. Aber selbst würde er das nicht wollen, bloß nicht. Er ist freiwillig bei seiner Frau.

Lustige Spitznamen

Sehr schön. Jedenfalls kam er über die Idee der alles auskundschaftenden Privatdetektive zum Krimi, dazu noch das unschöne Thema spurlos verschwindender junger Frauen aus den armen Hinterlandregionen, und weil in einem so unübersichtlichen Land eine Person allein nichts ausrichten kann, versorgte er seinen Ermittler Vish Puri gleich mit einem ganzen Mitarbeiterstamm. Zur besseren Identifikation der Mitarbeiter gibt er ihnen Spitznamen, die sich der geneigte nichtindische Leser auch leicht merken kann. Der Fahrer heißt Handbremse. Der faule Bürojunge Türstopper. Der hübsche junge Lockvogel Gesichtscreme. Und so weiter.

Puri selbst wird Dicker genannt, dick ist er nämlich wirklich, aber eher stattlich dick, nicht so unschön versoffen dick wie, na ja, das ist dann wieder das andere Thema. Puri liebt das Leben, schätzt seine Frau, isst gerne Herzhaftes und ist grundsätzlich und aus Überzeugung ein netter Kerl, auch zu seinen Bediensteten. Dass er Leute ausspioniert, ist okay, das macht die Figur weder klein noch kaputt, und wirklich entzückend sind ja auch seine Methoden, die irgendwo zwischen Sherlock Holmes (den Puri übrigens richtig blöd findet) und James Bond liegen. Sherlock Holmes, weil der Dicke allein durch seine Beobachtungsgabe viel über sein Gegenüber sagen kann, so wie Holmes damals anhand von Kleidung und körperlichen Auffälligkeiten die Leute einsortieren konnte. Heutzutage, seufzt Hall, geht so was in England nicht mehr, da sehen ja alle irgendwie gleich aus, die Klassengrenzen sind aufgehoben. James Bond, weil Puri sich jede Information – gerne auch mal illegal, aber wen stört so was schon in Indien – verschafft, weil er sich und seine Leute in exakt geplanten Undercoveraktionen überall einschleusen kann, weil er forensische Untersuchungen durchführen lässt, und ja, weil er eben alles irgendwie möglich macht.

Rhythmus

Hall liebt seine Figuren. Egal, wer auftaucht, jeder noch so unwichtige Nebendarsteller bekommt seine unverwechselbaren Eigenheiten wie der Gärtner, der sich jeden Tag derart bekifft, dass er bereits am frühen Abend bewusstlos umkippt, und fast jeder hat eine Anekdote, mit der er eingeführt wird. Wenn sich die Figuren schon nicht selbst dem Leser mit einem umfassenden Vortrag über ihre größten Errungenschaften vorstellen können, muss es eben der Autor tun. Natürlich fließt viel aus seinem direkten Umfeld ein, sagt Hall. Und er macht sich auch keine Gedanken darüber, dass die breite Einführung der Charaktere den Erzählfluss stören könnte. Er ließe sich ja gerne in allen möglichen Punkten belehren, meint Tarquin Hall, aber bei einer Sache sei er sich ganz sicher, und zwar beim Rhythmus.

Das stimmt auch. Die Anekdötchen sind so unterhaltsam, dass man frohgemut weiterliest und sich auf weitere Farbtupfer im ohnehin schon sehr bunten Neu Delhi freut. Die Krimihandlung kommt dabei nicht unbedingt zu kurz, sie ist nur eben nicht so verworren, wie Hall offenbar glaubt, dass sie es sein müsste. Agatha Christie fällt ihm ein, so was macht er nicht, sagt er. Moment, die hatte ja nun wirklich keine allzu verworrenen Plots, nur verwirrende Spuren. Und das muss sich Hall gefallen lassen: Puri steht am Ende ganz wie Poirot umringt von den Verdächtigen im Mittelpunkt, um ausführlich zu erklären, wer wann wen wie und warum. Was an der Stelle nicht geklärt wird, fragt anschließend beim Abschlussberichttippen Puris Assistentin ihren Chef, damit auch wirklich jeder Faden aufgerollt ist.

Ein Problem hat Hall, bei aller Fröhlichkeit und Hingabe an seine Romane: lange Figurenreden. Und Dialoge, bei denen eigentlich nichts passiert. Da sitzen die Leute also beisammen und erzählen sich was, und was tun sie dann bloß? Sie trinken einen Schluck oder beißen noch ein Stück Toast ab oder räuspern sich. Damit ist er unzufrieden, da will er sich noch was einfallen lassen. Vielleicht, vermutet Hall, ist das der Grund, warum die Schweden so völlig grundlos mitten in der Unterhaltung anfangen, Sex zu haben. Der Autor weiß nicht, was er mit seinen Figuren machen soll. Also lässt er sie sich die Kleider vom Leib reißen und, na ja, und danach reden sie einfach weiter.

Plot as you go?

Nun. Eine gewagte These. Nicht ganz ernst gemeint. Oder doch? Man weiß ja nie, bei diesen Briten. Jedenfalls ist Hall offenbar schon wieder einer von der Plot-as-you-go-Fraktion, der beim Kapitelschreiben erst seine Geschichte entwickelt, auf die Art: Mir fällt das alles einfach so ein. Beim mittlerweile dritten Roman, an dem er gerade sitzt, ist das mit dem „Vor-sich-hin-Schreiben“ offenbar nicht mehr so locker, da plant er nun doch etwas mehr im Vorfeld und macht sich zwei, drei Gedanken, bevor er das erste Kapitel schreibt. Das allumfassende Grundthema, zum Beispiel. Aber insgesamt ist er eher ein intuitiver Autor, ein gewiefter und unterhaltsamer Erzähler, man wird schon ein wenig neidisch, wenn er sagt, dass die Idee zum zweiten Roman eigentlich erst nur der Titel war: The Case of the Man Who Died Laughing, in Deutschland erscheint es im Dezember oder Januar.

Der Mann lieferte zumindest in Die verschwundene Dienerin auch ohne ausführliches Exposé mit Storysteps und Plotpoints ein gutes Stück Handwerk. Und als er später am Abend in seiner Sprache vorliest und das indische Englisch nachmacht, ist das Gekicher groß.

Wieso lesen denn alle immer nur diesen depressiven Kram? Und wieso haben die Leute in den depressiven Büchern dauernd Sex? Das lässt Tarquin Hall einfach keine Ruhe, besonders das mit dem Sex. Alles ist grau, und jeder hat grundlos Sex, da kann er nur den Kopf schütteln. Sicher hat das mit dem Grau und den Depressionen ein bisschen damit zu tun, dass Schweden und Norwegen und Schottland und Island keine so bunten Kulissen sind, vom Wetter mal ganz abgesehen. Die behördlichen Fallstricke, die es dort auch geben mag, haben längst nicht die Absurdität einer indischen Behörde, überhaupt sind es viel zu zivilisierte Länder, und sicher kann man in diesen grundsätzlich und vergleichsweise gut funktionierenden Staaten gar nicht die Bandbreite an skurrilen Charakteren hervorzaubern, die Hall auf den Plan ruft, ohne ins Lächerliche zu kippen. Da ist Hall klar im Vorteil. Warum aber so viele Leute das dann auch lesen, darauf kann man ihm so jetzt erst mal auch keine Antwort geben. Man fühlt sich im Gegenteil eher etwas ertappt, auch schuldig, dass man selbst vielleicht hier und da so etwas liest, und dann auch noch gerne.

Indische Krimis von Indern?

Also lieber Cotterill als Rankin? Die Antwort muss er eigentlich gar nicht geben, die ist ja klar. Aber er sagt dann doch viel Nettes über Cotterill. Auf die Frage, wie das in Indien mit Krimis aussieht, reagiert er etwas ratlos: Sein Buch läuft bei der englischsprachigen Bevölkerung richtig gut. Nur mit Krimis von Indern aus Indien kennt er sich gar nicht aus. Es gibt sie haufenweise, sagt er, als so eine Art Groschenroman, mit grellen Covern und auf billiges Papier gedruckt, werden sie an den Bahnhöfen verkauft. Es gibt sie in den vielen Sprachen des Landes, aber nicht auf Englisch, weshalb er nie welche gelesen hat. Er vermutet, dass es sich um recht simple, blutrünstige Geschichten handelt. Wie gesagt, ein Experte ist er auf dem Krimigebiet eigentlich nicht.

Vielleicht ist das manchmal ein Vorteil, wer weiß. Ihm hat es vorerst nicht geschadet. Und lange Dialogszenen, in denen mehr passiert, als sich zu räuspern, ohne dass alle gleich Sex haben, wird er auch noch hinbekommen. Ganz bestimmt.

Henrike Heiland

Tarquin Hall: Die verschwundene Dienerin: Ein Fall für Vish Puri
(Vish Puri. Most Private Investigator – The Case of the Missing Servant, 2009). Roman.
Aus dem Englischen von Jochen Stremmel.
München: Heyne 2010. 384 Seiten. 8,95 Euro.