Ich blase die Kerzen aus
– Alexander Gorkow, der preisgekrönte Journalist, führte 2012 in einem Portrait der Band Rammstein den Beweis, dass Supergroupies mit außergewöhnlicher Sprachkompetenz noch immer die besten Reportagen im Rockbusiness schreiben. Was in dem Bericht für das Süddeutschen Magazin (das Gorkow als Tourbegleitung in die USA schickte) lediglich zwischen den Zeilen erscheint, ist die Tatsache, dass der Reporter die Zeit mit der Band auch nutzte, um mit Rammstein-Sänger und -Lyriker Till Lindemann die Herausgabe eines kleinen Gedichtbands vorzubereiten.
„In stillen Nächten“ heißt das Buch, das Gedichte aus vielen Jahren versammelt. Im Durchblättern erscheint die Sammlung als Fundus: Vorstufen, Musterproben und Varianten eines lyrischen Erzählens, das das Herzstück von Rammstein ist. Grokow nennt Rammstein in seinem Vorwort ein „lyrisches Gesamtkunstwerk“, vollkommen zu Recht, wenngleich der Begriff ein wenig unterschlägt, wie sehr Sound, Beat, und vokale Präsentation die „Botschaft“ in den Versen erst zum Klingen bringen. Gerade da, wo „In stillen Nächten“ die gereimten Zeilen in Lyric-Nähe der Songs rücken wirkt das Endergebnis unvollständig, irgendwie ausgesetzt. Wie, fragt man sich zuweilen, hätte die Überführung in einen Rammstein-Kontext Gehalt und Reimauftritt der Verse noch weiter verändert?
Zugegeben: Wer über längere (wenn auch lange zurückliegende) Zeit einmal pro Tag das Album „Mutter“ gehört hat, wird „In stillen Nächten“ nicht mehr lesen können, als gäbe es Lindemanns Musiker-identität nicht. Für alle andern lässt sich sagen, dass die Exponate in Lindemanns Gedichtband sich grob in zwei Kategorien teilen lassen. Da sind einmal die kürzeren Stücke, zweizeilige Aperçus –
Es tut sehr sehr gut
Wenn jemand deine Kunst versteht
– als versuchte jemand, einen flüchtigen Einfall aufzuspießen; plus ihre unwesentlich längeren Geschwister, die Erzählminiaturen –
Geburtstag
Zu deinem Namenstag
schenk ich dir Flügel
nun steig auch auf das Haus
und spring
ich blase die Kerzen aus
– wie eine begrenzte Fensterschau in fremdes Leben. Und da sind zum anderen die balladesken Gedichte, die allerdings selten länger als eine Seite sind und daher mehr wie das Vorspiel zu einer Ballade wirken. Hier wie dort ist viel gereimt. Reime mag Lindemann, und er beherrscht wie kein zweiter im deutschsprachigen Musikraum das Spiel mit dem Gleichklang, der dem Inhalt eine zweite Ebene unterjubelt – die Ganzheit, die der Kreuzreim ins Fragment hinein behauptet, die Komik, die sich über den Paarreim in die Tragödie schiebt.
In stillen Nächten weint ein Mann
weil er sich erinnern kann
Ein Ausnahmetext unter den Balladen-Blaupausen und Gedankenblitz-Miniaturen zeigt Lindemann, ein wenig überraschend, als Dramolett-Schreiber. Gerne stellt man sich vor, wie der Lyriker nach einer Überdosis Sibylle Berg beschloss, sich auch an dieser Form zu versuchen. Das Ergebnis ist ein fein krankes Gegenwartsmärchen, das Rammstein für einmal ganz in den Hintergrund schiebt:
Er und Sie
Er: Warum schlägst du mich
Sie: Weiß nicht
Er: Ist gut
Er: Warum schlägst du mich
Sie: Hab Langeweile
Er: So dann
Er: Warum schlägst du mich
Sie: Bin einsam
Er geht und kauft einen Hund
Hund: Warum schlägst du mich
Sie: Wer hat uns das wunderschöne Haus gebaut
Er: Ein Architekt züchtet Hunde
Hund bellt
Er: Paß schön auf
Hund: Worauf den? Ist doch gar nichts.
Sie: Ich bekomme ein Kind
Er: Du mußt pressen
Sie preßt
Er: Das tut weh
Hund: Lacht
Er: Ist aber häßlich
Sie: Es sagt nichts
Sie schlägt das Kind
Kind: Ich sag nichts
Hund beißt das Kind
Kind: Dann leb ich doch
Sie: Hilf mir anlegen
Er: Hast du dich gewaschen
Hund: Laß mich auch mal an die Titten
Sie: Wer hat das schöne Haus gebaut
Haus schüttelt sich und wirft alle Ziegel vom Dach
Er: Ich sterbe
Sie: Ich sterbe auch
Hund nimmt Kind auf den Rücken
Kind: Immer geradeaus
Brigitte Helbling
Till Lindemann: In stillen Nächten. Kiepenheuer & Witsch, Köln 2013. 154 Seiten.14,99 Euro.