Über die Aurora

Aktuelle Ausgabe

Frühere Ausgaben

Suche

   Schwerpunkte    Theater     Kulturphilosophie     Belletristik      Literatur     Film     Forschung    Atelier     Musik  

......
Annäherung an die Wirklichkeit

Ein Überblick über die zeitgenössische rumänische Prosa
...
Die rumänische Literatur befindet sich in Aufbruchstimmung. Vor allem die jungen
AutorInnen zeigen durch ihren dynamischen Umgang mit Sprache und Form, welches
Potential in ihnen steckt. Vielfältig und komplex sind aber auch ihre Themen. Wiederholt
kommen hier die
Probleme, Obsessionen und Ideen, aber auch die Träume und
Hoffnungen der zeitgenössischen Europäer zum Ausdruck. So kann man ihre Literatur
als rumänisch und europäisch zugleich betrachten, als ein anderes Gesicht
unseres Europas und unseres Selbst.

Von Iulia Dondorici

(01. 01. 2007)

...


...


Iulia Dondorici
IuliaCornelia.Dondorici
@gmx.de


geboren 1979 in Tirgoviste (Rumänien). Studium der Anglistik und Rumänistik an der Universität Bukarest und der Humboldt-Universität zu Berlin. Gegenwärtig: Arbeit an einer Promotion in Rumänischer Literaturwissenschaft an der Humboldt-Universität zu Berlin (Thema: "Körperbilder in der rumänischen Literatur der Moderne")

Veröffentlichung zahlreicher Rezensionen und Berichte zu aktuellen Ereignissen des literarischen Lebens in "Observator cultural" (Bukarest) und "Literaturkritik.de".

Übersetzungstätigkeit:
(Deutsch-Rumänisch): Hans-Dieter Otto: "Militärische Irrtümer" (erschienen 2005 bei "Paralela 45" Verlag).

Homepage
...
www.dondorici.de


 

Buchtipps
 


...
Nora Iuga.
Der Autobus mit
den Buckligen.
Gva & Kunst, 2003, 65 S.
ISBN: 3929085844

 


...
Mircea Cărtărescu.
Selbstportrait in einer Streichholzflamme. Gedichte.
Deutscher Akad. Austauschdienst, 2001, 75 S.
ISBN:
3893570993

 

Linktipp
...
www.polirom.ro

 



...
T.O. Bobe
Zentrifuge.
Akademie Schloss Solitude 2004, 100 S.
ISBN:
3-929085-94-1

 


...
Sorin Stoica.
O limbă comună.
Editura Polirom, 2005, 256 S.
ISBN:
973-681-886-1

 

Linktipp
...
www.librariacarter.ro





...
Sonia Larian.
Bietele corpuri.
Editura Polirom, 2004, 296 S.
ISBN:
973-681-655-9

 


...
Daniel Bănulescu.
Ich küsse dir den Hintern, geliebter Führer!
Edition per procura,
2005,
374 S.
ISBN: 3-901118-56-X

 


...
Daniel Bănulescu.
Schrumpeln wirst du wirst eine exotische Frucht sein.
Gva-Vertriebsgemeinschaft, 2003, 144 S.
ISBN:
3901118519

 

    Im deutschsprachigen Raum weiß man sehr wenig über die zeitgenössische rumänische Literatur. Zum Teil liegt es an mangelnden Übersetzungen spontan fällt mir ein einziges Buch eines rumänischen zeitgenössischen Autors ein, das in den letzten Jahren in Deutschand erschienen ist. In Wahrheit sind es einige mehr, auf die ich noch zu sprechen kommen werde. Bis jetzt schien es auch keinen besonderen Grund zu geben, sich mit dem Thema in einer breiteren Öffentlichkeit auseinander zu setzen. Ob sich dies mit dem EU-Beitritt Rumäniens ändern wird, ist schwer abzuschätzen. Die Situation ist nicht vergleichbar mit der des jungen rumänischen Films, dessen aktuelle Präsenz auf den großen europäischen Filmfestivals beispielgebend ist. So sehr sich die künstlerischen Mittel aber auch unterscheiden: die Themen, die im Film und in der zeitgenössischen Literatur Rumäniens zur Sprache kommen, sind sehr ähnlich. Ob das auch ein Versprechen für einen künftigen Erfolg der rumänischen Literatur ist?

Kurzes historisches Intermezzo

    Nachdem es die rumänische Literatur in der kurzen Zwischenkriegszeit geschafft hatte, sich auf die Ebene ihrer westeuropäischen Schwestern emporzuschwingen und eine im weitesten Sinne moderne Literatur zu werden auch wenn sie traditionsgemäß hauptsächlich an Frankreich und an den literarischen Strömungen, die dort stattfanden, orientiert war  –, bedeuteten der Zweite Weltkrieg und die anschließende russische Besatzung eine Katastrophe für das kulturelle, gesellschaftliche und politische Leben. Die meisten rumänischen Kulturschaffenden fanden sich entweder in kommunistischen Gefängnissen wieder, gingen ins Exil oder stellten sich sogar auf die Seite der Kommunistischen Partei und ihrer Ideologie, um diese mit Wort und Tat zu unterstützen. Mircea Eliade, Emil Cioran oder Eugène Ionesco emigrierten beispielsweise nach Frankreich, um dort weiter in Freiheit literarisch tätig bleiben zu können.

Nach der politischen Brutalität der 50er Jahre kam es Ende der 60er und Anfang der 70er Jahre zur sogenannten "Liberalisierung", während derer es zum ersten Mal erlaubt war, überhaupt etwas anderes als sozialistisch-realistische Literatur (zu propagandistischen Zwecken) zu schreiben und zu veröffentlichen. Bedeutende Prosa-AutorInnen der 60er und 70er Jahre waren Ştefan Bănulescu, Gabriela Adameşteanu, Ana Blandiana, Nora Iuga (1), Dumitru Radu Popescu oder Marin Preda.

    Ende der 70er Jahre war diese Liberalisierung schon wieder vorbei. Nach einigen Staatsbesuchen in den kommunistischen Ländern Asiens hatte Ceauşescu sich vorgenommen, eine Diktatur nach dem Beispiel Maos in Rumänien aufzubauen, was verschärfte ideologische Zensur in allen kulturellen Bereichen nach sich zog. Erschwernisse beim Druck sowohl von Büchern als auch von Zeitungen kündigten bereits an, dass sich die 80er Jahre bald schon zu einem der dunkelsten Jahrzehnte in der Geschichte Rumäniens entwickeln sollten.

Es waren aber auch die Jahre einer bedeutsamen Erneuerung der rumänischen Literatur. Viele junge AutorInnen debütierten wenn auch unter sehr ungünstigen Bedingungen. Sie brachten neuen Wind in die rumänische Literaturszene. Gemeint sind die AutorInnen der sogenannten "Generation der 80er Jahre", die als erste VertreterInnen eines rumänischen Postmodernismus gelten. Sie traten als Gruppe auf und begannen gemeinsame literarische Experimente. Einer der interessantesten und bis heute sehr aktiven und beliebten Schriftsteller dieser Generation ist Mircea Cărtărescu. Auch im deutschsprachigen Raum präsent (2), schrieb er sowohl Gedichte (der schönste Band ist "Levantul" aus dem Jahr 1990) wie auch Erzählungen und Romane, unter anderem "Nostalgia" (1993) und den Zyklus "Orbitor" (zwei Bände, 1996 bzw. 2002 erschienen).

   Als weitere wichtige SchriftstellerInnen der "Achtziger-Generation" könnte man Mircea Nedelciu, Adriana Babeţi, Adriana Bittel, Răzvan Petrescu und Gheorghe Crăciun nennen. Und, last but not least, entwickelte sich in dieser Zeit die Literatur der deutschen Minderheit weiter. Deren Mitglieder schrieben und veröffentlichten in deutscher Sprache. Es geht um die heute auch außerhalb Rumäniens bekannte "Aktionsgruppe Banat" (1972-75), zu der u. a. Herta Müller, Ernst Wichert, Richard Wagner und William Totok gehörten. Aufgrund kritischer Äußerungen gegenüber dem kommunistischen Regime erhielten sie Publikationsverbot und emigrierten in der zweiten Häfte der 80er Jahre nach Deutschland. Hier konnten sie ihre literarischen Projekte weiter verfolgen. So zählen heute Herta Müller und Richard Wagner zu den bekanntesten, sowohl von LeserInnen wie auch von KritikerInnen stark rezipierten deutschsprachigen SchriftstellerInnen. Ihre Bücher beschäftigen sich wiederholt mit "rumänischen" Themen, die gleichzeitig höchst relevant für die globalisierten, in heutigen westlichen Gesellschaften lebenden multikulturellen Menschen sind: die Rückkehr des Exilanten, die Möglichkeiten der Integration des Individuums in einer fremden Welt, das Verhältnis des Ich zum Fremden, menschliche Beziehungen und das Gefühl von Heimat.

Junge rumänische Literatur

   Der Schritt der "jungen Literatur" in die Öffentlichkeit hat in Rumänien erst durch das groß angelegte Projekt eines bedeutenden Verlages – Polirom aus Iaşi – stattgefunden. Vor einigen Jahren setzte sich der Verlag zum Ziel, junge SchriftstellerInnen zu entdecken, zu fördern und zu veröffentlichen. Das Projekt wurde sowohl von der Leserschaft als auch von der Kritik begrüßt und erstaunlich gut aufgenommen, wahrscheinlich auch deshalb, weil man eine Krise der literarischen Szene spürte, in der bisher überwiegend die SchriftstellerInnen der älteren Generation agiert hatten. Wo viele der etablierten AutorInnen heute noch immer literarisch-ästhetisch die Vergangenheit aufarbeiten und problematisieren, zeichnet sich unter den jungen LiteratInnen der Zug ab, sich eher mit der unmittelbaren Gegenwart auseinander zu setzen. AutorInnen wie Sorin Stoica, Dan Lungu, T.O. Bobe (3) und Florina Iliş greifen in ihren Erzählbänden und Romanen allgemeine soziale Entwicklungen auf, konzentrieren sich aber auch auf typische Situationen und Probleme, mit denen sich junge Leute in der heutigen Welt konfrontiert sehen. So entsteht in dieser Literatur das oft ironische und mit viel Humor betrachtete bunte Bild der rumänischen postkommunistischen Gesellschaft bzw. von postkommunistischen Gesellschaftssegmenten mit ihren (Generations-) Konflikten und Abgründen, ihrem Chaos, ihrer materiellen Unsicherheit, aber auch Hoffnung und Vielfältigkeit, Abenteuer und einem unglaublichen Spaß am Leben.

Die Sprache dieser AutorInnen ist absichtlich kolloquial und leicht zu verstehen, weil sie für ein breites Publikum schreiben. In den Büchern schleichen sich nicht selten Figuren wie Straßenkinder, Lumpen, Verrückte, oder aber normale, einfache Leute ein. Ihre Ästhetik ist die eines inszenierten Realismus, dargestellt etwa am Geständnis des Ich-Erzählers in Sorin Stoicas Roman "O limbă comună" (Editura Polirom, 2005):

"Viele haben mich gefragt – zum Beispiel meine Kollegen – wo ich das, worüber ich schreibe, herhabe. Ich denke mir nichts aus, ich reproduziere nur. Ich möchte nichts erfinden. Wenn Leute sich im Text wiedererkennen, lachen sie sich tot. (…) Sich der Wirklichkeit durch Lachen annähern zu können! …". (4)

    Eine Richtung die der obigen entgegengesetzt ist könnte man "Literatur der Ich-Zentrierung" nennen. Als Tendenz taucht sie in allen europäischen Literaturen der Gegenwart auf. So schreiben viele AutorInnen der jungen Generation fiktionale Autobiografien, literarische Inszenierungen des eigenen Lebens. Dabei liegt der Schwerpunkt oft auf der Kindheit, auf Bildern und gattungsbedingt auf der Rekonstruktion der eigenen Vergangenheit. Diese Tendenz war schon in den 80er Jahren mit dem Roman "Bietele corpuri" (1988) von Sonia Larian, einer der besten rumänischen Schriftstellerinnen der Gegenwart, zu bemerken. Mit ästhetischen Konstruktionen des eigenen Lebens beschäftigen sich junge Autoren wie Filip Florian, Ana Maria Sandu, Simona Popescu und Cezar Paul Bădescu. Diese Liste könnte fortgeführt werden, gehört doch die Beschäftigung mit dem eigenen Ich zu den produktivsten Strömungen der rumänischen zeitgenössischen Literatur. Die Sprache dieser AutorInnen ist bewusst kompliziert, selbstreflexiv, oft metaphorisch. Zudem verwenden sie zahlreiche Techniken des postmodernen Romans und kreieren sprachlich-literarische Bilder und Collagen.

Irgendwo dazwischen lässt sich beispielsweise ein Autor wie Daniel Bănulescu positionieren, der auch ins Deutsche übersetzt (5) und erfolgreich rezipiert wurde.(6) Er ist Verfasser eines Romanzyklus über die kommunistische Vergangenheit Rumäniens. Frei von Klischees, mit erstaunlichem Humor, aber auch mit Selbstironie und scharfer Kritik an der rumänischen Gesellschaft und Mentalität, die großen nationalen (und nationalistischen) Mythen der rumänischen Geschichte dekonstruierend, ist Bănulescu – in Form einer postmodernistischen Parabel – eine komplexe Darstellung der rumänischen kommunistischen Gesellschaft gelungen.

    Die rumänische Literatur ist gegenwärtig sehr dynamisch und entwicklungsfähig, und auch vielfältiger und komplexer als in diesem knappen Überblick zum Ausdruck gebracht werden kann. Vor allem die jungen AutorInnen sind vielversprechend. Ihre Themen sind letztlich die Probleme, Obsessionen, Ideen, aber auch die Träume und Hoffnungen der zeitgenössischen EuropäerInnen. Ihre Literatur kann man als rumänisch und europäisch zugleich betrachten, als ein anderes Gesicht unseres Europas und unseres Selbst.

Aurora-Links
...
Mircea Eliade

Mircea Cărtărescu
Richard Wagner
Herta Müller

Ausdrucken?
...

...
Anmerkungen

(1) Ins Deutsche wurden die folgende zwei Gedichtbände von Nora Iuga übersetzt: "Der Autobus mit dem Buckligen. Gedichtroman", Akademie Schloss Solitude, Stuttgart 2003 und "Gefährliche Launen". Ausgewählte Gedichte, aus dem Rumänischen von Ernst Wichert mit einem Nachwort von Mircea Cărtărescu, Klett Verlag, Stuttgart, 2007. Sie ist auch durch zahlreiche Veröffentlichungen in Zeitschriften und Lesungen dem deutschen Publikum bekannt. Zur Zeit gilt sie als die beste Übersetzerin aus dem Deutschen ins Rumänische.

(2) Auch von Mircea Cărtărescu wurden ins Deutsche zwei Bücher übersetzt: "Selbstporträt in einer Streichholzflamme. Gedichte", von Gerhard Csejka, Mircea Cătrărescu und Barbara Richter, DAAD, 2001 und "Nostalgia", Volk und Welt, 1997. Er wurde in Deutschland und Österreich zu zahlreichen Lesungen und Gesprächen eingeladen.

(3) Auf Deutsch erschien der Erzählband "Zentrifuge", Akademie Schloss Solitude, Stuttgart, 2004.

(4) Zitat aus der Erzählung "Rugina" , in "O limbă comună", Polirom Verlag, Iaşi, 2005.

(5) Daniel Bănulescu, "Ich küsse dir den Hintern, Geliebter Führer!", Roman, aus dem Rumänischen von Aranca Munteanu, Edition per procura, Wien, 2005. Zudem erschien auf Deutsch auch der Gedichtband Bănulescus "Schrumpeln wirst du wirst eine exotische Frucht sein", Gva-Vertriebsgemeinschaft, 2003.

(6) Rezensionen und Artikel über "Ich küsse dir den Hintern..." wurden in großen Tageszeitungen wie z. B. der Neuen Zürcher Zeitung veröffentlicht.


 

Zurück zur Übersicht