Schlagwetter
Ab morgen neu in der konstanz | university press ein Essay von Georges Didi-Huberman über den „Geruch der Katastrophe“:
Der Künstler ist der Erfinder der Zeit. Er formt, er verwandelt Zeiträume, die bis dahin unmöglich oder undenkbar waren – Aporien, Sinnbilder der Geschichte – in etwas Greifbares.
»Schlagwetter« – ein Begriff aus dem Bergbau – bezeichnet ein Gemisch aus Methan und Luft, das unter Tage entsteht. Es kann zu einem explosiven Grubengas werden, das für Bergleute deswegen so gefährlich ist, weil seine Bestandteile geruch- und geschmacklos sind. Schlagende Wetter wurden kontrolliert abgefackelt, konnten jedoch auch zu tödlichen Explosionen führen.
Georges Didi-Huberman wendet sich unter diesem Begriff dem nur schwer zu ergründenden Verhältnis von Zeit und Katastrophe zu. Früher benutzten Bergleute kleine Vögel in Käfigen als »Wahrsager«, um ein Austreten des Grubengases frühzeitig bemerken zu können: Es war ein schlechtes Omen, wenn der Vogel plötzlich anfing zu zittern. Lässt sich unter solchen Gesichtspunkten auch die Geschichte erfassen? Sind die Vorzeichen historischer Erschütterungen genauso geschmack- und geruchlos wie das Grubengas, kaum zu bemerken und doch zentrales Indiz eines Wendepunktes? Wie genau registriert man diese durchsichtige Nicht-Substanz, die sich explosionsartig zu erkennen gibt? Wie kann man die Zeit kommen sehen? Kann das Erzittern von Bildern nicht auch diese mysteriöse Aufgabe erfüllen?
Diesen Fragen geht Didi-Hubermans neuer Essay nach, indem er Kommentare zu den Bildern liefert, die »aus den Tiefen der Erde« aufgestiegen sind. Sein Verfahren wird dabei besonders an jenem Dokumentarfilm deutlich, der die Konstellation von Bild und Kommentar auf ein ganz neues, bis dahin unbekanntes Niveau gehoben hatte: Pier Paolo Pasolinis Film La Rabbia, der nicht nur ein beeindruckender politisch-poetischer Bilderreigen ist, sondern ein historischer Seismograph, der mithilfe der Poesie der Bilder das Schlagwetter erahnen lässt.
Georges Didi-Huberman: Schlagwetter. Der Geruch der Katastrophe. Essay. Konstanz | university press 2016.
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