Katyn denken
Ein etwas angetrunkener Mensch überraschte mich kürzlich mit dem Satz: Es gibt keine Gegenwart, es gibt nur Vergangenheit und Zukunft. Darüber habe ich nie nachgedacht. Irgendwie wird mir schwindlig ohne Gegenwart. Weder in dem alten philosophischen Wörterbuch aus dem Bücherschrank meines Vaters noch in meinem fünfbändigen Röhrich für Redensarten findet sich etwas zum Stichwort Gegenwart. Im Ethymologischen wird Gegenwart vom Mittelhochdeutschen g e g e n w a r t – gleich Anwesenheit...
Mubaratten und der verlorene Januar / Februar/ vier/ arba’a
Es wird ein großer Stern in meinen Schoß fallen...
Wir wollen wachen die Nacht,
(Else Lasker Schüler)
Blankas Beiruts Membranen vibrieren allesamt. Als ob sie ein Orchester beim Stimmen wäre. Der Januar ist an ihr vorbeimarschiert ohne ihr Bescheid zu sagen. Todtraurig macht sie sich durch den Februar und rührt seine Gaben in ihre Limonade: Graulicht. Das schmeckt natürlich nicht...
Ich sehe was
Ich bin mit einer Zwergin[1] zusammen. Sie hat immerhin große Ähnlichkeit mit meiner katholischen Freundin. Das hat mich wieder etwas beruhigt. Die Beunruhigung nahm jedoch wieder zu, als ich kurz auf dem Klo war. Ich sah an mir herunter und wurde meines Geschlechtsteils gewahr, das pygmäische Ausmaße angenommen hatte. Nun gut, dachte ich, schließlich willst du ja deine katholische Zwergin beim Kuscheln nicht zu schwer verletzen. Dieser Gedanke war von beängstigender Folgerichtigkeit...
Hässlich über Schönheit schreiben - Einhard Güldensterns stilkritische Geschichte der Ästhetik
Im Ignaz Biber Verlag Wartenberg ist ein schlichtweg gewaltiger Beitrag zur Geschichte der Ästhetik erschienen, der die Verzahnung der philosophischen Disziplin mit der tatsächlichen Kunstproduktion in Beziehung setzt. Gewaltig will heißen: Drei Bände, nicht weniger als 1805 Seiten im Ganzen, darin ein satter Tafelteil mit 234 Abbildungen. Einhard Güldensterns Studie Das Hässliche der Ästhetik verfolgt auf dieser weiten Strecke die genannten Wechselwirkungen vom 19. Jahrhundert bis in die allerjüngste Vergangenheit...
Ried - Waldundwiesenkrimi
In Furchen und Ackervertiefungen stehen Schneeschmelze-Seen zwischen sandig-hellem und schwerem schwarzen Boden. Riesenpflugschollen neben Kohlresten und Rosenkohlstauden vom Vorjahr, nach Windeln stinkt der faulende Weißkohl. Diesiger Himmel überspannt das platte Land als bleiweißer Schirm. Der schnurgerade Horizont teilt das untere Drittel aus Ackerbraun ab von den zwei oberen aus Wolkengrau. Molkenbläuliche Himmelsglocke, gestülpt über leeres Feld. Nützliche Kleckse darunter...
Kirschenfliege. Liebes-Kriminal.
Die forensische Entomologie, kriminalistische Insektenkunde, ist nun mein Beruf. Alles wegen der Kinderliebe unter dem Kirschbaum. Alles wegen der helläugigen Maria aus dem Obststädtchen Ceratz. Uralte römische Siedlung in der Wetterau soll das Dorf gewesen sein, heißt es, die Römer hätten mit ihrer Sprache die Weintrauben eingeschleppt. Und später zisterziensische Mönche das ebenso sonnenliebende Steinobst...
Mubarbarak und seine Scheinheiligenscheine / drei / teleta
Deutschland war für mich wie ein kompliziertes Gerät, für das es keine Gebrauchsanweisung gab.
(Hamed Abdel Samad)
Seit Tagen ist der Kölnhimmel blank und pfirsichschön. Und die Luft schmeckt nach Porzellaneis. Seit gestern ist der Himmel über Kairo schwarz und weich wie eine alte verfilzte Decke. Die Luft schmeckt nicht, wie immer. Und seit gestern ist Blanka Beiruts Herz ein Gerät, das sie nicht mehr versteht. Seine Geräusche erinnern..
Apocalypso - Aus Briefen von Ulrich Bergmann (Bonn) und HEL Toussaint (Berlin) 1993-2010
HEL: Ich habe immer experimentiert so weit als ich mich bemühe, keine 2 gleichen gedichte zu schreiben. Der bogen ist weit gespannt. Ich weiß im durcheinander auch nicht wo es hin läuft. Im moment wird ja nur revivelt, renaichangiert und neu aufgemischt. Fin de siècle sagen Sie. Die Gründerzeit ging ja nach hinten los. Wie war das doch? belle époche. Schön haben Sie’s gesagt: „Neben Apokalypse muß Calypso bestehn.“ Jetzt flattern mir aus allen ecken sonettisten zu. Einer heißt riha, karl, und das kommt...
Schwangerschaftsengel, trauriger / Januar zwei/ Janajer etnein
Siehst du das weißliche Kashi, die Stadt? (Ulrike Almut Sandig)
Blanka Beirut hat nicht mehr alle ihre Tassen im Schrank. Der gestreifte Nachbar hat sich welche ausgeliehen. Liegt es daran, dass Blanka heute eine Verschleierte fragt, seit wann Moscheen zwei Minarette haben? Scham im Schrank. Oder Leere in der Gedankenmulde....
Traurige Temperaturen
Die heißesten Momente erlebt meine katholische Freundin in der Badewanne. Die Wassertemperatur ist so hoch, daß sie sicher sein kann, daß ich ihr nicht nachsteige, und selbst wenn, so gäbe es doch nur ein schlaffes Brühwürstchen hinterher. Gerötet wie ein Krebs im französischen Restaurant betritt sie nach einer Stunde Kochzeit mein Zimmer, schön warm eingewickelt im Bademantel, um den Kopf ein Handtuch geschlungen, was nicht allzu entfernt an die Kopftracht der Janitscharen erinnert, der Elitefußtruppe...
Motten nach Tunesien / Januar eins/ Janajer wahid
Ein Klumpen Stille versperrt die Außentür (Wolfgang Langner)
Die Außentür ist zu. Zumindest bei Blanka Beirut, kennen Sie sie? Die kölsche Späherin mit den blonden Libanonlocken? Von der jeden Tag jemand enttäuscht ist. Jeden Abend schließt sie deshalb fest zu.
In Tunesien aber geht alles auf. Jedenfalls ist von Freiheit die Rede. Dennoch friert die arme Blanka fast am Stuhl fest.
Die Zeit finden oder: Wie man zu Marcel Proust kommt
Merkwürdig genug: im Französischunterricht begegnete er mir nicht, obwohl dort von Racine bis Camus alles aufmarschierte, was Rang und Namen hat. Marcel Proust begegnete mir Jahre später, unverhofft auf einer Urlaubskarte; eine Kommilitonin – sie studierte Psychologie – schrieb mir (auf der Rückseite einer Landschaft, an die ich mich nicht mehr erinnere) ein Sätzchen, das hängenblieb: „Lese hier Auf der Suche nach der verlorenen Zeit und stelle wieder einmal fest, dass die Dichter doch die besseren Psychologen...
Muchtar Schachanow und sein zentralasiatisches Gedicht über den "Irrweg der Zivilisation"
2000 Zuhörer bei Lesungen sind bei Muchtar Schachanow, kasachischer Volksdichter und "ungekrönter König der Demokratiebewegung", wie es sein Übersetzer Friedrich Hitzer formuliert, keine Seltenheit. Dichtung hat in den Ländern der Steppe und damit auch der Weite zwischen China und dem Kaukasus noch den Stellenwert eines Gutes, das dem gesamten Volk gehört; noch, und da schränkt Muchtar Schachanow bereits ein, denn seit den großen Umbrüchen nach dem Zerfall der Sowjetunion verändert...
Das nordische Du - gepflegt im KÜNSTLERHAUS lukas in Ahrenshoop
Es klopfte, und bevor ich Herein oder Nein, warten Sie bitte rufen konnte, ging die Tür auf. Ein schnurbärtiger Mann mit einer um den Hals gehängten Spiegelreflexkamera lächelte mich an und fragte, ob hier die Ausstellung sei. Seine Frau spähte neugierig in mein Zimmer. Bevor sie noch näher kamen, ging ich auf sie zu und sagte: Tut mir leid! Hier gibts keine Ausstellung. Das Künstlerhaus Lukas habe nur am Tag der offenen Tür geöffnet, und dieser Tag ereigne sich, trotz der seit zwei Tagen offen stehenden Tür, weil sie frisch gestrichen worden sei...
Aufm Tellerrand die Muichstraßn - ein Dichtergespräch über bayerische Verhältnisse
Der Lyriker und Herausgeber Anton G. Leitner wurde im Laufe der letzten Monate hart angegangen. Nach seinem Lyrikprojekt beim Ökumenischen Kirchentag erreichten ihn, seinen Verleger und zahlreiche hohe Kirchenfunktionäre Briefe, die Leitners Arbeit mit bedenklichem Vokabular kritisierten; es wurde sogar gefordert, die weitere Verbreitung seiner Bücher zu verhindern. Die Attacken eskalierten nach dem Rauswurf Helmut Zöpfls bei den „Münchner Turmschreibern“. Im Gespräch über bayerische Verhältnisse Anton G. Leitner & Gerrit Wustmann.
Unsere Wüstentöchter - Zur Rezeption von Autobiographien naher und ferner Frauen
Zwei konträre Beobachtungen zum Anfang: unweit der Berliner Friedrichstraße, in relativer Nähe zu Daniel Libeskinds beeindruckendem Jüdischen Museum, spielen zwei türkischstämmige Jungen, kaum älter als zehn Jahre. Der eine, Größere, reißt den anderen am Ärmel, der fällt, regt sich auf, hebt zu einer Litanei an, der Größere schilt: "Du Opfer!" Und schon ist der andere auf den Beinen und die Rangelei geht richtig los. Dagegen in München, auf einer Lesung im Colibris -- es geht um ein Buch, das traumatische...
Er ging zu Andrea Doria - Die permanente Reform an den deutschen Universitäten
Die Reform der Reform der Reform frisst die Reform der Reform. Warum? Es sind keine Kinder mehr übrig, und Revolution sagt man heute nicht mehr; besonders im Verwaltungswesen. Besonders wo diese Verwaltung auf leicht entzündliche Gemüter trifft: auf Studenten, an Universitäten. Gefressen wird dennoch, und nachdem die schon jetzt so genannten Alten Studiengänge verschlungen sind, werden die Neuen wiedergekäut und im laufenden Betrieb stetig weiter verändert. Eine Änderung jagt die nächste, eine Umstellung die andere, und all die Universitäten...
Bildungsmisere
Ich bin ein Opfer der Bildung. Auf dem Arbeitsamt habe ich auf Nachfrage eingestehen müssen, nicht nur ein, sondern sogar zwei Studienabschlüsse zu besitzen. Ich bin wohnhaft in Halle, Sachsen-Anhalt, und die Betonung liegt auf Haft. Beide Studienabschlüsse habe ich mit sehr gut abgeschlossen, was meine Lage nur noch verschlimmert hat. Die Fallmanagerin war angehalten, meine Kompetenzen auf einer Vierer-Skala (Grundkenntnisse bis Expertenwissen) anzukreuzen. Sie mußte fast überall ihr Kreuzchen bei Expertenwissen machen...
Was erhoffen Sie sich von Reisen?
In der Bunten Stube in Ahrenshoop entdeckte ich gleich am ersten Tag ein Buch von Max Frisch. Es heißt, wie auf den Kopf zugefragt, Halten Sie sich für einen guten Freund?, Insel Taschenbuch Verlag. Das Büchlein enthält Fragebögen, die er in sein Tagebuch, zwischen 1966 und 1971, geschrieben hatte. Ich kaufte es und konnte mich vor dem Abendessen, das meine Freundin zubereitete, lange an Fragen wie Möchten Sie ihre Frau sein? oder Tun ihnen die Frauen leid? aufhalten.
Eine Frage befremdete mich nach dem Essen etwas...
facebook -Kommentare zum Interview mit Axel Kutsch
Ein Post des Interviews von Gerrit Wustmann mit Axel Kutsch hat eine ungewöhnlich lange Diskussion ausgelöst, die wir unseren Nicht -facebook Lesern nicht vorenthalten möchten. NICHT KORRIGIERT, NICHT KOMMENTIERT, in voller Länge.
..... "ansonsten hat sich im netz doch jeder nur lieb, außer mich natürlich und auch dass kann man ja wieder interpretieren, dass da jemand sich nicht dazugehörig fühlt, im abseits steht usw, aber gehts in der Literatur um..."
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