AUSGEGRABEN: Das verlorene Kind
07.08.2012 | Rahel Sanzara hieß eigentlich Johanna Bleschke und war die Tochter eines Stadtmusikers. Am 9. Februar 1894 in Jena geboren, sollte sie eine Buchbinderlehre absolvieren, entschied sich jedoch, nach Berlin zu übersiedeln, wo sie in einem Verlag arbeitete und dort 1913 den um zwölf Jahre älteren Arzt und Schriftsteller Ernst Weiß kennenlernte, mit dem sie eine langjährige, konfliktreiche Beziehung einging. Aufgrund des Ausbruchs des Ersten Weltkriegs...
Sein und Zeit, konkret
06.08. 2012 | Kigo – das ist das auf dem Cover des neuen Buchs von Ingram Hartinger auch zu sehende Schriftzeichen des Japanischen für die Jahreszeiten; wobei das zu einfach gesagt wäre: Eigentlich ist damit nämlich das Jahreszeitenwort gemeint, bezeichnet werden so also Wörter oder Phrasen, die (in Japan) allgemein mit einer bestimmten Jahreszeit in Verbindung gebracht werden, Kirschblüte und dergleichen, worin die Zeit-Wörter als nicht abstrakt erscheinen ...
Literarische Webcam? Sarah Kirsch hat es wieder getan.
05.08.2012 | Mistwoch, der 13. Zebra in Tee, und die Hausherrin, die sich gestern noch um einige Akwareller gekümmert hat, weigert sich, einen ihr widrigen Rohmahn zur Kenntnis zu nehmen. Manchmal ist sie ja ziemlich kapores, besonders nach einer Läsung, aber wenn dann im Mandril warm der Sunn scheint, kann sie wieder durch die Botanik spazoren zu den Azoren. Alles klar? Langjährige Eingeweihte in die geistige und räumliche Welt der Sarah Kirsch werden ...
Die Vokabulatur des Knospenspaziergangs
04.08.2012 | Die Macht des Staunens: wenn sie einen auch angesichts des anbrechenden Stillstands in der Raserei am Fabulieren hält, könnte sie mittlerweile die eigentliche Avantgarde sein. Anders als die vielen sich totlaufenden Konstrukte der konkreten Poeten und die sich wegduckenden Œuvr’lein der mit dem Strich gebürsteten Generationen ist das Werk von Friederike Mayröcker, weiland die Grand Dame der österreichischen Literatur, selbst dann ...
Ausgegraben: Eine Schwester Orwells
02.08.2012 | Eigenartig, dass Karin Boye hierzulande nahezu unbekannt ist, sowohl ihre Gedichte als auch ihre Prosa. Sie wurde am 26. Oktober 1900 als Tochter eines Ingenieurs in Göteborg geboren, die Familie stammte aus Böhmen und war 1844 nach Schweden gekommen. Nach ihrem Studium an der Universität Uppsala engagierte sie sich in der radikal-pazifistischen Clarté-Bewegung, die von Henri Barbusse initiiert worden war. ...
Dichtung von Abaelard bis Zoroaster
31.07.2012 | Dichte Sprache. Neue, eindrückliche Bilder. Tiefgründige Beobachtungen. Anspielungsreichtum. Originelle Einfälle, die immer auch eine humorvolle Seite haben. – Dies sind in aller Kürze die herausragenden Merkmale Steinherrscher Dichtung. Und dazu der typische Klang eines Steinherr-Gedichts – ein Wort, das beinahe klingt wie Steinway-Klavier, und – nomen est omen? – auch voller Musikalität ist. Darin klingt etwas! ...
Lyrik als Zusammenführungskunst
30.07.2012 | Ohne die Lyrikanthologien von Axel Kutsch wäre das literarische Leben im deutschen Sprachraum deutlich ärmer. Dieser Herausgeber hat einen anderen Begriff davon, was diese Gattung leisten muß. Die von ihm seit 1984 fast jährlich herausgegebenen Sammelbände fügen sich ineinander mit eiszeitlicher, in geologischen Epochen denkender Zwangsläufigkeit, als fortschreitende Bewegung. Er denkt in Werkzusammenhängen ...
C.H. Huber zeichnet die Poesie der Waschstraße auf
30.07.2012 | Es ist vielleicht einer der schönsten Momente der Beschäftigung mit Dichtung, wenn ein neuer Name auftaucht, unerwartet, unangekündigt. Ich hatte — wen verwundert es bei der Fülle der Möglichkeiten? — noch nie etwas von C.H. Huber gehört, obwohl das schlichte grüne Büchlein, das seinen Waschzettel kurioserweise auf dem Coverdeckel trägt, bereits der dritte Gedichtband der 1945 in Innsbruck geborenen und lebenden Autorin ist. ...
Ein Klassiker der slowenischen Literatur
29.07. 2012 | Von Ivan Cankar (1876–1918), dem wichtigsten Autor der modernen slowenischen Literatur, liegt im Klagenfurter Drava Verlag, der seit 1995 regelmäßig Bücher von Cankar publiziert, inzwischen der 14. Band seiner Werke in deutscher Übersetzung vor. Nach etlichen Romanen hat der großartige Übersetzer Erwin Köstler diesmal Erzählungen ausgewählt. Die Texte des Bandes „Milan und Milena“ entstanden 1910 bzw. 1912 und wurden erstmals ins Deutsche übersetzt. ...
Ubi verba, ibi utinam Görner
28.07.2012 | Rüdiger Görner, einer der wichtigsten Germanisten – stellvertretend für viele Ehrungen und Titel sei erwähnt, daß er 2012 Preisträger des Deutschen Sprachpreises, den die Henning-Kaufmann-Stiftung im Stifterverband für die Deutsche Wissenschaft verleiht, ist, ist der Verfasser zahlloser geistvoller Studien wie auch anderer Texte, die sich allesamt durch Integrität und zugleich doch Beweglichkeit auszeichnen. Stil klärt bei ihm, Erklärungen Görners aber haben immer Stil. ...
roughbooks - Raumzeitdiskontinuum
27.07.2012 | Als roughbook 021 ist im März dieses Jahres Bruno Steigers Prosasammlung „Der Trick mit dem Sprung aus dem Stuhl“ erschienen. Ein Prosaereignis, möchte ich sagen, oder etwas abgeschwächt, ein Prosaereignis für mich. Ich bin seit einiger Zeit auf der Suche nach Texten, oder bescheidener, nach einem Text, der mich bezüglich der Prosa wieder einen gewissen Mut schöpfen lässt. Denn das im Zuge des neuen Erzählens ...
Unruhe in der Landschaft
26.07.2012 | Christian Schloyer hat nach seinem vielgelobten Debut „spiel · ur · meere“ bei Kookbooks nun einen zweiten Band vorgelegt, „panik · blüten“. Der Verlag hat über die Jahre gewechselt (nun ist’s der Leipziger Poetenladen), die Verspunkte sind geblieben. Das Lob des ersten Bandes hatte in einigen prägnanten Formulierungen eine Linie zur Romantik gezogen. So wurde in der FAZ „ein Exerzitium in romantischer Magie“ bemerkt, die SZ griff gar ...
Literarische Evolution und politische Verwerfung
25.07.2012 | Dieses dicke Buch hat zwei Lesebändchen in unterschiedlichem Grün. Und das hat seinen Sinn, weil man damit die Orientierung in dem Gedichtteil und dem umfangreichen Apparat aus biografischen Angaben zu den Autoren und bibliografischen Angaben zu den Gedichten nicht verliert. Ich mag es sehr, wenn mich ein Verlag mit derart sinnfälligen Gaben verwöhnt, zumal das Springen zwischen beiden Teilen einen nicht ...
Intuitiver Flow – Dagmara Kraus und ihr Gedichtband „kummerang“
24.07.2012 | Mark Twain hat einmal gesagt, die deutsche Sprache sei eine phonetisch sehr schwache Sprache, das stärkste Wort, das er kennen würde, sei „Zahnbürste.“ Mag dieses Diktum auch dem der Unterhaltung verpflichteten Kulturjournal-Stil eines touristisch reisenden Großschriftstellers geschuldet sein, der Blick von außen auf die Lautgebung deutscher Sprache ist dennoch bemerkenswert interessant. ...
„Deine kleinen Eingriffe und Kürzungen“: Raymond Carvers „Wovon wir reden, wenn wir von Liebe reden“ in der Originalfassung
22.07.2012 | Raymond Carver war ein sehr guter und produktiver Lyriker (die unter dem Titel „All of Us“ gesammelten Gedichte umfassen immerhin rund 380 Seiten), aber er war auch ein mindestens ebenso guter Erzähler, und seine Short Stories gehören zweifellos zu den besten, die im Amerika des 20. Jahrhunderts geschrieben wurden. Carvers Prosa liegt in einem handlichen tausendseitigen Band seit 2009 in der Library of America vor, dieser sei ...
Vom Verweben der Dinge mit Kollektiven und Subjekten
20.07.2012 | »Das spätmoderne Leistungssubjekt ist arm an Verneinung. Es ist ein Subjekt der Affirmation«, so Byung-Chul Han in seinem Buch Topologie der Gewalt; Es ist ein Subjekt des »und…und…und…«, das keinen Abstand mehr kennt, keine Hindernisse, das jederzeit für neue Aufgaben bereit sein muss, das sich den Anforderungen der Gesellschaft bereitwillig stellt und dadurch die eigenen Konturen wie auch die Grenzen zum Anderen verliert....
Dorf mit skizzierter Landschaft: Norbert Scheuer schreibt Heimatgedichte
19.07.2012 | Man kann es nicht leugnen, der Untertitel von Norbert Scheuers Gedichtsammlung ist durchaus provokant: „Neue Heimatgedichte“. Ob es sich dabei um das Aufgreifen einer Tradition unter anderen, modernen Vorzeichen — „make it new“ — oder tatsächlich um eine bewußte Provokation handelt, bleibt zunächst offen. Der Umgang mit Begriffen wie Heimat ist jedenfalls leider, in überschnell verdächtigender Weise, noch immer irrational ...
Boomtown Berlin - Die Wiener in Berlin - eine Studie des Künstlermilieus der 20 er Jahre
18.07.2012 | Die Wilden Zwanziger Jahre – ebenso Synonym wie eine oftmals strapazierte Formel für eine Periode des Aufbruchs und der Veränderung. Das Deutsche Kaiserreich und die österreichische Monarchie hatten den Weltkrieg verloren und waren untergegangen, schlagartig und radikal hatten sich die Bedingungen und Normen der Gesellschaft geändert, in Berlin schneller und gründlicher als in Wien. Berlin schien moderner zu sein, jedenfalls „schneller“, dreimal täglich ...
-Die vorauseilende Moderne.
17.07.2012 | Dem österreichischen Germanisten und Jiddisten Armin Eidherr gebührt Anerkennung. Mit der Herausgabe des Bandes „Der Tag des Einsamen“ macht er erstmals seit den 1960er Jahren das Werk eines Autors zugänglich, für den das Prädikat „fast vergessen“ eigentlich nicht zutrifft. Der Name Isaac Schreyer, 1890 in Wischnitz/Bukowina geboren, dürfte wohl ausschließlich Experten auf dem Gebiet der jiddischen Literatur etwas sagen. ...
Jenseits des bloßen Glaubens
16.07.2012 | Georges Bataille ist einer der provokantesten Denker und Autoren des 20. Jahrhunderts. Grenzen konnte er nichts abgewinnen, wiewohl mit Ordnung als Archivar und Bibliothekar an der Bibliothèque nationale de France gewiß vertraut. Doch gerade darum führte er diese ad absurdum, sei’s durch Mikrologie, sei’s durch eine Faszination für Anordnungen, wie sie Lingchi (und man sollte dem wie auch dem Link nur nachgehen, wenn man sich ganz sicher ist…) ...
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