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Magazin für Verrisse aller Art     Archiv

Herausgegeben von Dieter Conen & Hadi Eberhard

   



AUSGABE 1



Quem Jucat

Anmerkung zu F. J. Czernins Essay- und Dichtkünsten.


Der österreichische Dichter Franz Joseph Czernin hat im Jahre 1995 mit seiner Kritik an Durs Grünbeins Gedichtband 'Falten und Fallen' (abgedruckt in 'SCHREIBHEFT 45') Aufsehen in der Lyrikbranche erregt. Zu recht, finde ich. Der, wie ich gern sagen möchte, fulminante und zutiefst unbarmherzige Essay hat mir einen Nachmittag lang außerordentliches Lesevergnügen bereitet. Nachfolgend unkommentiert einige Sentenzen aus der genannten Arbeit, auf die ich später Bezug nehmen werde:

  • Ein Schriftsteller hat sich der Literaturgeschichte sowohl zu bemächtigen als auch zu unterwerfen.
  • Verkürzt er dieses Sich-Bemächtigen auf bestimmte Formen des Sprachgebrauchs (siehe unten), so unterwirft er sich der Geschichte unwillkürlich.
  • Man soll Genetiv-Metaphern, antropomorphisierende Vergleiche, Allegorien nicht unreflektiert gebrauchen.
  • Man darf das Vertraute eines bestimmten traditionellen Begriffs des Poetischen nicht blindlings in Anspruch nehmen.
  • Ein Schriftsteller hat auf der Höhe der Zeit zu sein.
  • Man darf nicht ohne nachzudenken eine überkommene Gestik bzw. Satzrhetorik, in der bestimmte vergangene Epochen oder auch Schriftsteller anklingen, übernehmen (etwa den Hymnenton Rilkes oder die Manierismen Benn'scher Machart).
  • Bezeugungen humanistischer Bildung oder Gelehrsamkeit haben, sofern sie keine nachvollziehbare strukturierende Funktion besitzen, zu unterbleiben.
  • Das gleiche gilt für den - den Eindruck von Modernität erzeugen sollenden - blindwütigen Gebrauch von Termini aus der Wissenschaftssprache.
  • Der Unterschied zwischen eigentlicher und übertragener Bedeutung darf nicht als selbstverständlich vorausgesetzt werden.
  • Die Freiheit vom Metrum und damit vom Fall und der Anzahl der Silben pro Zeile hat aus einer bestimmten Notwendigkeit zu stammen. Es muß einen erkennbaren Grund haben, warum eine Zeile dort gebrochen wird, wo sie gebrochen ist.
  • Der Gebrauch von großen Worten ist zu vermeiden, denn das, was durch sie evoziert wird, ist meist diffus, blaß und konturenlos. Es darf nicht bloß benannt, es muß dargestellt, dem Begriff muß Leben eigehaucht werden.
  • Der Dichter muß aufs Ganze gehen.


Quell des erwähnten Lesevergnügens ist zweierlei gewesen:
Erstens eine Schadenfreude. Warum soll ich es verhehlen? Den Shooting-Star der Szene auf ebenso rabiate wie bündige Weise als gedankenlosen (weil die Literaturgeschichte nicht mitreflektierenden) Gedichte-Fabrikationsautomaten entlarvt und bis in die kleinste Schraube zerlegt zu sehen, war köstlich. Sowas lese ich immer gern.
Zweitens das Empfinden von Schönheit. Czernin entwirft eine - 'Theorie' ist zuviel gesagt - Kollektion von Anforderungen (siehe oben) an das literarische Schreiben, insbesondere an Lyrik, und prüft anschließend minutiös ab, inwieweit Grünbeins Texte diesen Anforderungen genügen. Ergebnis: Ungenügend, setzen! Das Verfahren an sich ist nicht sonderlich anspruchsvoll, vermittelt aber, konsequent durchgezogen wie hier, das Empfinden von Schönheit, jedenfalls mir. Herzlichen Dank dafür, lieber Czernin.
Nun sind mir allerdings schon bald nach der Lektüre Bedenken gekommen. Vielleicht ist das alles gar nicht so doll, was der Czernin da treibt, sagte ich mir. Forderungen aufstellen, x-beliebige, und auf deren Erfüllung pochen kann ein jeder, völlig unabhängig davon, ob der jeweils Kritisierte sie erfüllen kann oder will oder ob sie 'billig' sind, also eine Plausibilität besitzen, die über die Qualität eines schlauen Einfalls, einer aparten Spitzfindigkeit oder auch einer allgemeinen, nicht weiter begründeten, also fragwürdigen 'Übereinkunft' hinausgeht und womöglich eine gewisse Gesetzeshaftigkeit für sich beanspruchen kann. Fehlt diese Art 'nomothetischer' Plausibilität oder ist sie von einem rechtschaffen hindenkenden Leser nicht zu erkennen (und ich erkenne sie zum Beispiel nicht), so gerät eine Abhandlung wie die Czerninsche leicht in den Verdacht der zirkulären Denkakrobatik (vulgo: Hirnwichserei), die zu nichts taugt als zu zeigen, daß der Verfasser in der Lage ist, eine von ihm selbst entworfene Meßlatte - sei sie auch noch so abstrus - an einen Untersuchungsgegenstand anzulegen und konsistente Urteile zu generieren. Das ist im Zeitalter des nie endenden, gern ziellos ausufernden öffentlichen Schwadronierens zwar ein unbestreitbares Verdienst. Doch dürfte die praktische Relevanz der so gewonnenen Urteile nahe am Nullpunkt liegen, das heißt, diese Urteile würden - im vorliegenden Fall - die Wirklichkeit der Grünbein-Gedichte gar nicht tangieren, geschweigedenn 'mitten im Schwarzen' sitzen. Nun darf aber natürlich niemand fragen: Was ist denn bitte 'die Wirklichkeit eines Grünbein-Gedichts?'.

Ich halte fest: Czernin hat sich hinsichtlich des materiellen Gehalts seiner Einlassungen als zweifelhafter, hinsichtlich ihrer formellen Bewältigung als glanzvoller Kritikus erwiesen. Wie ist es aber nun um die Dichtkünste, eigentliche Ambition des famosen Essayisten, bestellt? Der Frage möchte ich anhand der AKZENTE, Heft 5, vom Oktober 1996 nachgehen. Hierin ist der Autor mit 16 Sonetten vertreten, samt einer 'Bemerkung', die dem besseren Verständnis der Verse dienen soll.
Unglücklicherweise kann ich mit einem eigenen Ansprüche-Katalog, Gegenentwurf zum Czerninschen etwa, nicht aufwarten. Meine Leseerlebnisse mit Lyrik - kurze Gedichte haben mir gefallen, aber auch lange; gereimte ebenso wie ungereimte; Bachmann-, Celan- und Heym-Verse haben mich nicht weniger erfreut als Rothman-, Dietrich- und Malkowski- Sentenzen; und selbst die berüchtigte Christiane Allert-Wybranitz fand ich nicht durchgehend (muß ich mich schämen?) abscheulich - meine Leseerlebnisse, sage ich, haben, heterogen wie sie sind, es mir nicht gestattet, auch nur einen einzigen Satz zu destillieren, den ich dauerhaft als Anforderung an Lyrik im allgemeinen hätte brauchen können. Von Zeit zu Zeit gab es zwar solche Sätze. Doch kaum hatte ich sie einmal in diesem Sinne angewandt, erwiesen sie sich auch schon als untauglich, weil mich unerwartet das Gegenteil dessen erfreut hat, was sie forderten. Und das ist oft so gegangen, so lange, bis ich es aufgegeben habe, solche Sätze zu formulieren.
Stehe ich, der ich die Czernin-Sonette beurteilen will, nun ohne Rüstzeug da? Nicht ganz. Ich kann ja durchaus sagen: Die Texte haben mir nicht gefallen. Und ich vermag auch näherungsweise anzugeben, warum dem so ist. Nur wird meine Erklärung weder systematisch ausfallen (sondern anekdotisch) noch wird sie sich verallgemeinern lassen (weil ich sie nicht verallgemeinern will - aus o. a. Gründen). Alsdann frei von der Leber weg:

  • Da sagt mir ein Autor in der begleitenden Bemerkung: 'Aufgemerkt Leser, jetzt kommt was Sensationelles, Niedagewesenes: Übersetzungen ('Übertragungen') von einer Sprache in dieselbe, mit den und den diffizilen Problemen, die allesamt gelöst oder doch wenigstens sichtbar gemacht worden sind.' Toll, denke ich, und brenne vor Neugier, bin willens, mich begeistern, ja, überwältigen zu lassen - Und was erlebe ich? Der Kerl klaubt ein paar müde Vokabeln aus den Wortfeldern der Begriffe 'Feuer', 'Luft', 'Wasser' und 'Erde' zusammen, gibt einige Standardfüllsel dazu, schüttelt gut durch, paßt schließlich noch auf, daß er die Konstruktionsvorschriften fürs Sonett nicht allzusehr verletzt und spekuliert im übrigen darauf, daß ich Dödel von Leser schon irgendetwas Hochrelevantes aus dem Wortsalat extrahieren werde.
  • Dem hust' ich was, denke ich.
  • Da läuft die riesengroße Verarsche ab!
  • Brummi-Kapitäne machen's ähnlich, nur besser: 'Aufgepaßt, Damen, meiner ist 18,50 Meter lang!' Da weiß man doch haargenau, was auf keinen Fall nicht gemeint ist.
  • Grünbein kann's vielleicht nicht besser, aber dieser Kamerad hier führt mich mit Fleiß hinters Licht.
  • Zugegeben, die Konzeption ist bestechend; doch wie kümmerlich, reißbretthaft, seelenlos sind die ihr entspringenden Verse.
  • Sprachspelzen, denen - aus Furcht vor dem Überkommenen? - jedes (konventionelle) Bedeuten ausgedroschen wurde.
  • Und ist dieser Dreh wirklich neu in der Literaturgeschichte?
  • Privatjargon, der eine Dechiffrieranweisung nötig hat, mit der sich dann doch nichts enziffern läßt.
  • Ungenießbares Sprechgemurkse.
  • Zu folgendem sehe ich keinen Unterschied: Einer läßt einen Besenstiel umfallen, daß es knallt. Dazu verteilt er einen Handzettel: 'Ich will damit das und das ausdrücken.' 'Gut Junge', sage ich, 'alles klar. Der Mond ist nicht nur kleiner als die Erde, sondern auch viel weiter von ihr entfernt. Ich weiß Bescheid.'
  • Quem jucat?, spricht der Lateiner.

Nee, lieber Czernin, so heiß mir Dein Essay ins Herz gegangen ist, so kalt haben mich Deine Sonette gelassen, diese aseptischen Ausgeburten eines klügelnden Großhirns. Aber vermutlich haben meine aburteilenden Sätze mit der Wirklichkeit Deiner Gedichte soviel zu tun wie Dein Essay-Gedonner mit dem Werk Durs Grünbeins.
So long, Tschau, Tschüß und Servus, wie der Friese gern sagt - und nix für ungut.


Fritz Gimpl




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