AUSGABE 1
"Das Kino ist nicht wahrheitsfähig!"
Das große Lit-eX Interview mit dem Kulturpessimisten Mike
Klages
Mike Klages lebt als Taubenzüchter, Wittgenstein-Freak und Allround-Kritiker
seit den siebziger Jahren in Berlin-Charlottenburg. Seine mit Spannung erwartete
und mit vielen Vorschußlorbeeren bedachte Tetralogie 'Wider das Behagen in der
Kultur' erscheint in Kürze im Meves Verlag. Mit Mike Klages sprach Pater Ralf de Frikassee.
"Photographieren ist Wahrheit; Film ist ebenfalls
Wahrheit, vierundzwanzigmal in der Sekunde." Jean-Luc Godard
Lit-eX:
Uns ist ein Ausspruch zu Ohren gekommen, den Sie kürzlich im Anschluß an einen
Kinobesuch getan haben sollen: 'Ich habe mich glänzend amüsiert. Aber über die
Welt gelernt habe ich nichts.' Trifft es zu, daß dieses Wort von Ihnen stammt?
Klages: In der Tat. Das war anläßlich des Films.., ähm, war es 'Pulp
Fiction' oder dieses Antonioni-Remake des 'Förster vom Silberwald' oder war es
'Independence Day', nicht die Verfilmung des gleichnamigen, furiosen
Richard-Ford-Romans, sondern dieser SciFi-Schinken von dem, wie heißt er doch
gleich, Lothar Emmerich.., nee, das war der Kicker mit der rechten Klebe. Oder
war's die linke? Ich weiß es nicht mehr.
Lit-eX: Jedenfalls erinnern Sie
sich daran, diesen Ausspruch getan zu haben.
Klages: Jawohl.
Lit-eX: Darf ich Sie bitten, denselben möglichst kurz, wie es das
Konzept dieser Interviewreihe vorsieht, zu erläutern. Prima facie leuchtet er ja
nicht so ohne weiteres ein.
Klages: Mein eigenes Gebrabbel erläutern? Na
gut, weil Sie es sind und sich extra aus München herbemüht haben. 'Amüsieren'
kennen Sie, können Sie was mit anfangen oder?
Lit-eX:
Selbstverständlich.
Klages: Dann macht Ihnen die Wendung 'nichts über
die Welt gelernt' Probleme?
Lit-eX: Sozusagen.
Klages: Gut, wenn
ich behaupte, ich hätte nichts über die Welt gelernt bei einem Kinobesuch, dann
will ich damit sagen, daß ich nicht erfahren habe, wie die Dinge, die der Film
darstellt (Mord, Liebe, Bankraub usw.) sich wirklich verhalten. Was der Film mir
zeigt, weicht von der Wirklichkeit (wie sie uns allen bekannt ist) ab. In
Wahrheit verhält sich die Sache anders. Das weiß man vom ersten Augenblick an.
Und doch geht man gerne ins Kino. Auf den Punkt gebracht heißt das doch: Ich
werde im Kino belogen, aber es macht mir nichts aus.
Lit-eX: Ähm,
inwiefern, ich meine, wieso weicht das Gezeigte von der Wirklichkeit ab?
Klages: Sind Sie schon mal Polizist gewesen mit dem Auftrag, eine Frau
zu observieren?
Lit-eX: Wie belieben?!
Klages: Und diese Frau
ist zufällig die schönste der ganzen Stadt, Sie dürfen sie zufällig aus
tausendundeiner Lebensgefahr retten, und zufällig verliebt sich diese frappante
Schönheit, der Sie selbst rettungslos verfallen sind, im Verlauf der Handlung in
Sie. Zufällig leben Sie in Scheidung und brauchen nichts so dringend wie eine
glühend entflammte Beautyqueen. 'Die Nacht hat tausend Augen' heißt der
Streifen, auf den ich anspiele. Ein immens unterhaltsamer Film übrigens.
Lit-eX: Ich verstehe nicht, worauf sie hinaus wollen.
Klages:
Sind Sie so ein Polizist schon mal gewesen? Antworten Sie nur auf meine Frage.
Lit-eX: Natürlich nicht.
Klages: Glauben Sie, daß es so einen
Polizisten je gegeben hat oder geben wird?
Lit-eX: Hm, warum nicht. Mit
ein paar kleineren Abweichungen vielleicht...
Klages: Sehen Sie,
Abweichungen. Nichts anderes habe ich gesagt. Der Film weicht von der
Wirklichkeit ab. Sie haben's erfaßt. Kompliment!
Lit-eX: Moment mal, Sie
wollen doch nicht sagen, daß, bloß weil ein realer Polizist vielleicht etwas
weniger telegen wäre als Herr Dreyfuss, weil seine sonstigen persönlichen
Verhältnisse im einzelnen nicht exakt mit denen des Filmhelden übereinstimmten,
..daß dieser Umstand den Film a priori 'unwahr' machte?
Klages: Doch,
genau das will ich sagen, unwahr und nicht geeignet, die Wirklichkeit zu
beschreiben. Von 'erklären' will ich gar nicht erst reden.
Lit-eX: Ist
das nicht ein wenig arg eng gesehen?
Klages: Überhaupt nicht, sofern
Ihnen an 'Wahrheit' etwas liegt. Lassen Sie es mich schlicht und einfach so
ausdrücken: Das Wesen des Films besteht in der Glättung von Zufälligkeiten, im
Ausblenden solcher Details, die nicht in den Handlungsablauf passen. Absoluter
Story-Zwang herrscht, dem der Filmmacher sich beugen muß. Daraus entstehen
unvermeidlich Stereotypen, Simplifizierung, Stilisierung, inszenierte
Kausalitäten, 'stimmige' Dramaturgien usw., die den Wunsch des Zuschauers nach
Sinn, nach Zusammenhang, letztlich nach Happy End usw. bedienen. Das ist völlig
legitim. Ich habe nicht das Mindeste dagegen und erfreue mich von Zeit zu Zeit
wie gesagt durchaus gerne selbst daran. Nur soll mir niemand kommen und
behaupten, sein Film verbreite irgendeine Wahrheit, fange dieselbe ein oder
dergleichen, hätte auch nur das Geringste mit der Realität zu tun. Diese
Realität nämlich ist vom Zufall gezeichnet, sie zerfällt mit Vorliebe in - um
einen neumodischen Ausdruck zu gebrauchen - Ereignisfraktale, die in keinerlei
Zusammenhang miteinander stehen außer jenem des zeitlichen Aufeinanderfolgens.
Auf den Einzelnen stürzt ein unablässiger, chaotischer Strom von Geschehenspartikeln ein, der sich jeder noch so ausgeklügelten Dramaturgie
entzieht. Die Entropie, würde der Physiker sagen, nimmt tendenziell zu. Und
hier, im Entropischen, Zufälligen, Unsinnigen spielt sich das eigentliche Drama
des menschlichen Daseins ab. Davon hat noch kein Film je gehandelt. Das Kino
verfolgt die gegenteilige Strategie: Es fügt anfangs unzusammenhängende
Einzelheiten nach Art eines Puzzles zu einem konkludenten Ganzen zusammen. Die
Entropie strebt gegen Null. Am Ende ist, bei einem 'guten' Film jedenfalls,
alles erklärt und aufgeräumt. Film und Wirklichkeit sind somit Antipoden, die
nichts, aber auch gar nichts miteinander gemein haben. Ergo können wir
festhalten: Kino ist, seinem Wesen nach, nicht wahrheitsfähig. Die Story, die
sein muß, ist der Tod der Wirklichkeit, wenn auch zugleich der Ursprung allen
Amüsements. Ich kann durchaus leben mit dieser Tatsache. Und viele andere können
es ebenfalls. Zu beachten bleibt nur: Wer wissen will, was die Welt im Innersten
antreibt, der darf eben nicht ins Kino gehen - und auch von anderen Künsten, die
eine Story brauchen, um 'herüberzukommen', keine Aufklärung erwarten. So einfach
ist die Chose. Guten Tag.
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