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Ausschnitt aus IKAROS von Annika Dick

MEERKATZEN
MEERKATZEN

Alisha Bionda (Hrsg.) / Tanya Carpenter (Autor) u.a.
Anthologie / Kurzgeschichten

Arunya-Verlag
Covergrafik: Shikomo
Covergestaltung: Shikomo
Innengrafiken: Shikomo

PFOTEN-REIHE: Band 1
eBook

Jan. 2016, 4.99 EUR
auch als eBook erhältlich

»Asche zu Asche, Staub zu Staub.« Regen fiel auf das offene Grab. Dicke Tropfen prallten von dem hölzernen Sarg ab und untermalten die Worte des Pfarrers. Es war keine große Beerdigung. Es war kein großer Ort. Nur ein kleines Dorf, keine hundert Einwohner. Aber diese waren alle hier und hatten sich an dem Grab versammelt.
Die Menschen schüttelten traurig den Kopf, als der Pfarrer die Beerdigung beendete und die erste Schippe nasser Erde hinab in das Grab warf. Sie alle folgten seinem Beispiel, einer nach dem anderen. Die alten, wie die jungen. Am Ende blieben nur die Männer zurück, die das Grab verschlossen und die Erde darüber aufhäuften. Ikaros trat aus dem Schatten der Zypressen hervor und ging langsam auf das Grab zu. Den Kopf hielt er gesenkt, die großen, schweren Tropfen fielen ihm dennoch ins Gesicht, erschwerten seine Sicht. Unbeirrt schritt er voran, bis er vor dem Grab seines Freundes stehen blieb und sich auf der kalten, nassen Erde niederließ.
Die beiden Männer sahen ihn nicht einmal an. Sie ignorierten ihn, als sie ihre Mäntel über die Köpfe zogen und den anderen Dorfbewohnern folgten, die Zuflucht vor dem Wetter gesucht hatten und nun bei Kaffee und Kuchen beisammensaßen.
Sie würden über den Toten sprechen. Die Alten davon berichten, wie Michail als kleiner Junge zwischen den Häusern des Dorfes gespielt hatte, die Frauen davon erzählen, wie er auf den Festen musiziert und mit ihnen getanzt und gesungen hatte. Er hatte eine sehr schöne Stimme gehabt, einen feinen Tenor, und er war der beste Fiedler weit und breit gewesen. Die Jungen würden sich an ihn als guten Lehrer erinnern, der ihnen in der kleinen Dorfschule vorstand und sie für das Leben vorbereitete. Vielleicht würde auch jemand den Streit mit seinem Sohn ansprechen, als dieser in die Stadt zog, weg vom Meer, um nie wieder zurückzukommen. Ein Kater hatte bei diesen Gesprächen jedenfalls nichts verloren.
So blieb Ikaros alleine zurück. Er kannte nicht den herumtollenden kleinen Jungen von einst, nicht den tanzenden jungen Mann mit der Fiedel im Arm und auch nicht den Lehrer, der aus dem Mann geworden war. Ikaros kannte nur den Mann, der ihn bei sich aufgenommen hatte. Damals, vor fast zehn Jahren. Es war ein ebenso regenreicher Tag gewesen wie jetzt, erinnerte sich Ikaros und schüttelte sich, als ihn ein besonders großer Regentropfen auf die Nasenspitze traf. Er war damals noch klein gewesen, dünn und hungrig. Nur nasses Fell und Knochen. Schwach war die Erinnerung an seine Mutter und seine Geschwister. Ganz selten noch konnte sich Ikaros an weiches, warmes Fell und lautes, beruhigendes Schnurren erinnern, an eine warme Zunge, die über seinen kleinen Körper leckte, ihm Geborgenheit schenkte. Dann war die Dunkelheit gekommen und mit ihr der Schmerz. Er hatte seine Geschwister schreien gehört, seine Mutter fauchen, doch nichts hatte geholfen. Es war nass geworden und kalt. Entsetzlich kalt. Ikaros hatte geglaubt, sein Leben sei bereits verwirkt.
Dann, wie aus dem Nichts, hatte er ein Licht gesehen. Erst klein und unscheinbar, dann größer und heller und mit dem Licht war auch frische Luft gekommen. Es hatte nach Sonne geduftet und nach Wasser und Fischen. Damals hatte er sich für das klägliche Wimmern geschämt, das seiner Kehle entrungen war, als sich Michails Hand um seinen kleinen, geschundenen Körper gelegt hatte. Heute wusste er, er hatte keinen Grund dazu gehabt.
»Armer, kleiner Kerl.« Michails Stimme war ruhig und freundlich gewesen. Nie hatte er anders zu Ikaros gesprochen. In all den Jahren nicht. Er hatte das kleine Katzenkind an sich gedrückt, ihm Wärme gegeben und ihn mit nach Hause genommen.
Zu Hause hatte er ihn in eine warme Decke gewickelt und ein Feuer im Kamin entzündet. Langsam hatte sich Ikaros entspannt, hatte sich von Michail streicheln lassen, das Futter gefressen, das ihm der Mann von seiner Hand anbot. Als sich Ikaros stark genug gefühlt hatte, auf eigenen Beinen zu stehen, hatte er versucht, näher an das warme Feuer zu gelangen. Michail hatte leise gelacht und ihn abgefangen, ihn an sich gezogen und an seinen warmen Pullover gedrückt.
»Nein, mein kleiner Freund, das Feuer ist zu gefährlich. Du willst doch nicht verbrennen, nachdem du fast ertrunken wärst?« Michails große Hände hatten den kleinen Katzenkörper gestreichelt, hatten ihm Geborgenheit gegeben, die Ikaros verloren geglaubt hatte. Er war an Michails Körper eingeschlafen und dem alten Mann nie wieder von der Seite gewichen.

*

Drei Tage hielt Ikaros nun schon Wache am Grab seines verstorbenen Freundes. Der Regen hatte am ersten Abend bereits nachgelassen. Einige Frauen waren am nächsten Morgen auf den Friedhof gekommen, um Michails Grab zu pflegen. Sie ignorierten Ikaros, doch eine von ihnen kam später wieder und stellte ihm eine Schüssel Wasser und etwas zu fressen hin. Ikaros kannte die Frau. Sie war oft bei Michail zu Besuch gewesen und hatte auch ihm etwas zu Essen mitgebracht. Die Mäuse, die Ikaros seinem Freund vor die Füße gelegt hatte, hatte dieser nie angerührt, auch wenn er sich stets bei dem Kater für sie bedankt hatte. Als nun der dritte Tag seinen Höhepunkt fand und die Sonne das Fell des grau getigerten Katers wärmte, drangen leise Menschenstimmen an sein Ohr, noch bevor er die festen Schritte zweier Männer hörte. Er blickte neugierig zu den Männern empor, die auf ihn zukamen. Einer von ihnen, der, der an Michails Grab gesprochen hatte, blieb stehen und zeigte auf Ikaros, dann auf das Grab.
»Die Beerdigung war wie gesagt vor drei Tagen. Wir wussten nicht, dass Sie … keiner im Dorf hatte Kontakt zu Michails Sohn …«
Der zweite Mann winkte ab. Er war jünger als der Pfarrer. Viel jünger als Michail es gewesen war.
»Mein Vater hat nie über seinen Heimatort oder seine Eltern geredet. Ich weiß nicht, weshalb er sich mit meinem Großvater zerstritten hat.« Er seufzte und fuhr sich mit einer Hand durch das dichte, dunkle Haar. »Als er im Sterben lag, tat es ihm leid. Er wollte ihn um Verzeihung bitten und ich versprach ihm, es meinem Großvater zu sagen. Doch nun scheint es zu spät zu sein.« Der junge Mann ging vor dem Grab in die Knie und sah traurig auf den mit Blumen geschmückten Erdhügel hinab. Ikaros beäugte ihn neugierig, wie er die Hand ausstreckte und sanft über die Erde strich. Er hob seine Augen zu dem Gesicht des Mannes und ihre Blicke trafen sich. Der junge Mann hielt dem Kater seine Hand entgegen, damit er an seinen Fingern schnuppern konnte. Ikaros reckte neugierig die Nasenspitze und sog den Geruch des Fremden ein.
»Der Kater gehörte Ihrem Großvater«, erklärte der Pfarrer hinter dem fremden Mann, was diesem ein kleines Lächeln aufs Gesicht zauberte.
»Ein hübscher Kerl.« Seine Hand glitt über Ikaros´ Fell und hielt hinter den Ohren inne. »Kann … kann ich sein Haus sehen?«
Ikaros sah zu, wie der Pfarrer nickte und beobachtete, wie die beiden Männer den Friedhof verließen. Er streckte sich, drehte sich einige Male im Kreis und rollte sich anschließend wieder auf der Erde zusammen, der Duft des Fremden noch immer in seiner feinen Nase.

Szenentrenner


Am nächsten Morgen erwachte Ikaros durch den Duft von frischen Fischstückchen, die ihm jemand vor die Füße legte. Er öffnete verschlafen die Augen und sah Michails Enkel neben sich knien, die Hand auf der Erde ausgestreckt. Ikaros begann zaghaft an dem angebotenen Fisch zu knabbern und aß schließlich alles, was er bekommen konnte, leckte auch die Finger des Fremden ab. Als dieser ihn danach streichelte, entkam dem Kater ein tiefes, wohliges Schnurren.
»Du vermisst ihn, nicht wahr?«
Ikaros schloss die Augen und neigte den Kopf zur Seite. Menschen verstanden nicht viel. Aber dieser hier schien klug zu sein. Wie Michail. Das gefiel Ikaros.
»Ich werde noch einige Tage bleiben. Ich bin hergekommen, um meinen Großvater kennenzulernen, weißt du? Das versuche ich jetzt, indem ich in seinem Haus wohne, mit den Leuten rede, mir einen Eindruck seines Lebens mache.« Er sah zu Ikaros hinab und der Kater blinzelte ihm entgegen. »Vor seinem Bett steht ein Korb mit einer alten Decke. Das ist dein Platz. Du kannst jederzeit dorthin.«
Als Michails Enkel ihn verließ, blieb Ikaros reglos am Grab seines Freundes sitzen und dachte nach. Schließlich, als die Sonne bereits unterging, machte er sich auf den Weg nach Hause.
Michails Haus stand etwas abseits des restlichen Dorfes. Näher am Meer, das er so geliebt hatte. Er war Fischer gewesen, so wie sein Vater und dessen Vater. Aber er war auch ein Lehrer gewesen und ein Spielmann. An diesem Ort waren Menschen nie nur eines. Für Ikaros war er immer nur ein Freund gewesen.
Ikaros umrundete die Zypressen neben dem Haus, als die Sonne gerade wie ein großer, roter Feuerball im Meer versank. Er hatte viele Abende mit Michail auf der Bank vor dem Haus gesessen, die Hand des alten Mannes auf seinem Rücken, und mit ihm den Sonnenuntergang beobachtet. Es sah so schön aus. So groß und warm. Als er noch klein gewesen war, hatte Ikaros versucht, den roten Feuerball zu fangen und war ihm bis ans Meer nachgelaufen. Erst, als die Wellen gegen seine Pfoten geschlagen hatten, war er umgekehrt, doch nur, um es erneut zu versuchen. Michail hatte gelacht und ihn vom Meer weggetragen. Er hatte gemeint, Ikaros sei wie der Junge aus der Geschichte, der zu nah an der Sonne geflogen wäre, und dessen Wachsflügel durch die Hitze versenkt wurden. Ikaros.
Doch Ikaros hatte keine Flügel, nur Fell und Pfoten. Die Sonne hatte er nie gefangen. Irgendwann hatte er akzeptiert, dass der große Ball ihm jeden Abend entwich. Er hatte sich auf Michails Schoß zusammengerollt und die Zeit mit dem alten Mann genossen.
»Da bist du ja.«
Ikaros sah zu Michails Enkel auf, der gerade aus dem Haus trat und ihm die Tür aufhielt. »Na, komm rein, ich gebe dir was zu fressen.«
Ikaros schlüpfte zwischen den Beinen des Mannes ins Haus und ging zielstrebig zu seinen Schüsseln in der Küche, die Michail stets für ihn gefüllt hatte.
»Als ich klein war, wollte ich immer einen Hund«, bemerkte Michails Enkel, als er Wasser in eine der beiden Schüsseln goss. »Aber mein Vater wollte partout keine Tiere haben. Ich habe mich immer gefragt, ob er welche als Kind gehabt hatte. Aber ich glaube, dafür bist du doch ein wenig zu jung.«
Jung? Pah, dachte Ikaros und maunzte. Er war zehn Jahre alt, ein stolzes Alter für einen Kater. Der Mann lächelte und strich ihm über den Kopf. »Du heißt Ikaros, hat der Pfarrer gesagt. Ich bin übrigens Andreas.« Er lachte und zog seine Hand zurück, bevor er sich erhob. »Und ich rede mit einem Kater, als könne er mich wirklich verstehen. Tut mir leid, kleiner Freund. Friss in Ruhe dein Abendbrot. Lass dich durch den verrückten Mann nicht stören.«

Shikomo
Shikomo
© http://www.shikomo.de

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