Montag, 30. November 2020

Form, 01

 

Form 1 © Chris Zintzen @ panAm productions 2020








Ruhe in der Formfindung. Calm in finding the form.




















Mittwoch, 11. November 2020

Ilse Aichinger: Nachruf (Martin)

 





Gib mir den Mantel, Martin,
aber geh erst vom Sattel
und lass dein Schwert, wo es ist,
gib mir den ganzen.

Ilse Aichinger , Nachruf



Aichinger decouvriert die von oben herab erteilte "milde Gabe" als Bestätigung und Festigung der ökonomischen und strukturellen Machtverhältnisse. Mit seinem jähen Perspektivwechsel zwingt uns dieses Gedicht, mit den Augen des Empfangenden zu sehen und "Mitmenschlichkeit" auf gleicher Ebene einzufordern.

Die Phrase des "auf Augenhöhe Kommunizierens" erscheint mit Aichingers Forderung, Mitleid müsse vom hohen Ross herabsteigen, in neuem Licht. Es geht um Hingabe, statt um Gabe. Es geht um Unmittelbarkeit ohne Kalkül. Es geht darum, auch den vermeintlich Schwachen als Seinesgleichen zu respektieren.

Dies ist nicht nur wider die Kultur der Betroffenheit und wider das Gutmenschentum, sondern auch wider die Spende als Steuervorteil und wider das "Gutsein" als Sprungbrett zum (persönlichen) Paradies.

Wir neigen dazu, uns in unserem Gutsein zu gefallen. Als Buchhalter unserer selbst rechnen wir uns unsere "milden Gaben" selbst am höchsten an. Dies zu erkennen, braucht nicht mehr als die Lektüre von vier Zeilen großer Literatur.





kleine form 1 quadrat - © Chris Zintzen @ panAm productions 2020


















Montag, 2. November 2020

Curfew/Terror

02.11.2020, 22:36

Hubschrauber über dem sonst stillen Wien. Unterbrochen von Polizeisirenen. In den Nachrichten ist von den vergeblich eingelagerten Martini-Gänsen die Rede. Bedauert werden notabene die Wirte, nicht die Gänse. 

03.11.2020, 07:14ff

Google lanciert eine Crisis Response des Wortlauts "Schüsse in Wien" mit automatischer Kartierung des Terrorgebiets. Dies selbstverständlich Social-Media-freundlich und per Mausklick auch als E-Mail verschickbar. Akutjournalismus ringt um Superlative, Meme wie "Pray for Vienna" gehen auch seitens bekennender Atheisten viral. 

Die Besonderheiten der Wiener Topografie des islamistischen Terrors treten in den Blick: Die Ausgehmeile des "Bermudadreiecks" mit Achtzigerjahre-Szene-Profil und konsumistischer Realität situiert sich rund um den Wiener Stadttempel, die Hauptsynagoge der Israelitischen Kultusgemeinde. Seit der Tempel 1981 von zwei schwer bewaffnete Fatah-Terroristen attackiert worden war, stehen Tempel, Seitenstetten- und Judengasse unter polizeilichem Schutz. Ständig? – Aus Kostengründen soll dieser und-um-die-Uhr-Schutz auf die Betriebszeiten von Gemeindezentrum und Tempel beschränkt worden sein. Demnach geschah das Attentat kurz nachdem die Wachleute um 20 Uhr ihre Posten verlassen hatten. 

1981 hatte es zwei Tote und von 21 teils Schwerverletzte gegeben. Am 2. November 2020 starben vier Zivilisten, einer der mutmaßlichen Täter wurde von der Polizei sogenannt "ausgeschaltet". Seither tönen die Polizeisirenen um unser Quartier. 

Eine Schweigeminute wird anberaumt, Staatstrauer angeordnet. Gemeindebauten und Amtshäuser sind mit Trauer beflaggt, rotweiißrot auf Halbmast. Mehr als 20.000 Handy-Videos des Ereignisses sind binnen weniger Stunden auf das eigens dafür eingerichtete Polizeiportal hochgeladen worden.  

Angesichts der Topografie kommt das Bild der kleinen Vilma Neuwirth in den Sinn, wie sie bei einem Fliegerangriff im zweiten Weltkrieg vor der zerbombten Marienbrücke steht: Ihre Familie war in einem Luftschutzbunker am anderen Ufer, bei der Ruprechtskirche, untergekommen. Nun gibt es kein Hinüberkommen mehr. 

Dieses "kein Hinüberkommen" gilt für den Haß der Islamisten, gilt aber auch für eine Mentalität des "we shall NOT overcome", wie sie aus dem amerikanischen Wahlkampf herüber tönt. Gut, dass der Wiener Wahlkampf mit den hässlichen Anti-Islam-Parolen der FPÖ vorüber ist. Man möchte jetzt kein Moslem sein in Wien. 

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Das meist via Social Media geteilte Mem lautet am Vormittag "Pray for Vienna". Am Abend ist man allgemein zu "Schleich di, du Oaschloch!" übergegangen: Man hält dies für eine gesunde Selbstbehauptung des Goldenen Wiener Herzens und schaltet sich – jeweils individuell, authentisch und freiwillig – mit dieser "Kulturkundgebung" gleich. 

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Quelle