More Bosch and less Michelangelo
Ljapunov-Diagramm für das Iterations-Schema λ1λ1λ2λ1λ2λ2 (Quelle: mp3-kolleg.de)
„Zufällige Besucher der mathematischen Fakultät an der amerikanischen Cornell University in Ithaca, New York könnten den Eindruck gewinnen, sich in der Tür geirrt zu haben. In einem der Büros bietet sich ihnen ein Anblick, den sie wohl eher in einem kunsthistorischen Institut erwartet hätten: registerweise Diapositive, säuberlich in Schubladen und Kästchen geordnet. Es handelt sich um Darstellungen komplexer Funktionen, die von einem Computer nicht nur berechnet, sondern in einer Zahlenebene auch ins Bild gesetzt wurden. Die Farben dieser mathematischen Bilder lassen sich frei wählen; es dominieren satte Primärkontraste und wellenartig abgetönte Farbzonen. Die Formen zeigen sich überwiegend organisch wuchernd, wiederkehrend treten rankenartige Strukturen in spiralförmiger Anordnung auf, mehrheitlich in einem symmetrischen Bildauf bau. Auf ihrem Rahmen sind sie teils handbeschriftet, teils tragen sie gedruckte Nummerierungen, auf dem Diapositiv selbst sind Angaben zur Bildproduktion zu sehen. So wertvoll dem kunsthistorischen Diathekar seine Klassifikation nach Künstlername, Epoche oder Provenienz, so wichtig für den Mathematiker die Kenntnis der Formelfamilie, des Grafikprogramms und der Parameter. John H. Hubbard zufolge, der diese Bilder programmiert und farblich gestaltet hat, sind sie Bestandteil einer grundlegenden Veränderung der Mathematik, die in den siebziger Jahren begann: »Mathematics entered an extremely baroque period, filled with details, with little side alleys, filled with interesting things. Somehow it became more Bosch and less Michelangelo.«“
So leitet Nina Samuel ihr Buch “Die Form des Chaos” ein.
In den letzten Jahrzehnten haben die bildgebenden Möglichkeiten des Computers zum vieldiskutierten »Pictorial Turn« – der Wende zum Bild – in den Naturwissenschaften geführt. Mit dem öffentlichkeitswirksamen Auftritt der Bilder von Chaos und fraktaler Geometrie sowie ihrer breiten Popularisierung ab Mitte der 1980er-Jahre erfasste dieser Trend auch die Mathematik und damit diejenige Disziplin, die als »Reich des reinen Denkens« traditionell für ihre Bilderskepsis bekannt war.
Die Bilder dieses Forschungsfelds werden in der vorliegenden Studie zum ersten Mal bildtheoretisch reflektiert und diskutiert. Im Zentrum stehen Arbeitsmaterialien aus privaten Bildarchiven von Mathematikern und Physikern. Eine besondere Rolle spielt dabei die Handzeichnung als Denkform, die auf der Schwelle zum digitalen Medienumbruch eine neue Schwungkraft gewinnt.
Linktips:
Computerkunst anno 1972
CHAOSextended - The CLOUD Project
Aktuell nur auf Englisch greifbar, aber ins Poetische weitergedacht:My Brain Is in My Inkstand: Drawing as Thinking and Process, edited by Nina Samuel and Gregory Wittkopp and published by Cranbrook Art Museum.
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