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Brigitte Oleschinski
wie die Wörter auftauen
aus ihren Winterquartieren, in denen sie Jahrzehnte geschlafen haben, tief im Berg, heißt es, oder von manchen: seit Anbeginn der Zeit, wie die Wörter in ihren Tiefkühlbeuteln wieder zu atmen beginnen, Trost atmen sie, hasenrein atmen sie, sobald die Frostfahrer sie ausliefern an die letzten Häuser im Wendehammer, wo die Edelstahlspülen wohnen, in denen sie rosig zitternd aus den Alupackungen schlüpfen und sich wieder an die Kaninchenställe erinnern, strohwarm, und wie der Volkssturmjunge sie streichelte, als er noch Hände hatte und sie hatten noch Fell, wie die Wörter mit den rosigen Nasen zu zucken beginnen, ist das hier noch Heimat, das Ceranfeld, die Mikrowelle, und wer soll das wieder sagen dürfen, Land unserer Väter, schuldenfrei, unter Schutzatmosphäre verpackt, wie sie lauter und lauter werden, mit den Läufen gegen die Ablaufrinne trommeln, Blut im Boden, Siedlungsraum, und das Gedicht will bloß flüstern: Gefrierbrand, Kaninchensprache
Michael Buselmeier Gefrierbrand, Kaninchensprache
Das Vertrauen in die große abendländische Poesie und die Hoffnung auf die rettende Kraft der Wörter sind uns schon seit längerem verloren gegangen. Es fehle den Poeten unserer Zeit, so liest man öfter, das Selbstbewusstsein Rilkes und Hofmannsthals und erst recht der Bezug zu einer vorrationalen Poesie, zu magischem Denken und dunklem Geheimnis. Es fehlt ihnen auch die Kühnheit des jungen Walter Benjamin, der über Stefan Georges Band „Das Jahr der Seele“ pathetisch befand: „Diese Gedichte aber vergleiche ich im Massiv des Deutschtums jenen Spalten, die nach der Sage nur alle tausend Jahre sich auf tun und einen Blick in das innere Gold des Berges gewähren.“ Brigitte Oleschinskis tiefgründiges, mehrstimmiges Gedicht, das hier am Ende unseres langen Weges durch die zeitgenössische deutsche Poesie vorgestellt wird, macht den Eindruck, erst jüngst entstanden zu sein. Es wurde in der Anthologie „Aus Mangel an Beweisen“ 2018 jedenfalls zum ersten Mal publiziert. Es ist geschrieben in einem Atem, einem Rhythmus: fünf ineinander überlaufende Strophen, deren Zeilenenden verknüpft sind durch die sich wiederholende Formel „wie die Wörter …“. Ich lese es so, als sei die gelehrte Autorin einige Jahre verstummt gewesen, hätte zumindest länger keine Gedichte mehr geschrieben, vermutlich aus gesteigerter Sprachempfindlichkeit und Weltskepsis. Nun aber hat sich der Wind gedreht, es herrscht Tauwetter; und schon die so wichtige Titelzeile berichtet davon, „wie die Wörter auftauen“. Sie kommen „aus ihren Winterquartieren“ hervor, die „tief im Berg“ liegen, in manchen Fällen „seit Anbeginn der Zeit.“ Brigitte Oleschinski hat ihre Sprache, ihre innere Stimme wiedergefunden und sie verkündet das hochgemut und beinah im Ton Walter Benjamins, wo er das mythische Gold des Berges beschwört. Wie die Dichterin selbst beginnen auch die Wörter, aufbewahrt in trivialen „Tiefkühlbeuteln“, wieder zu atmen, sie schlüpfen „zitternd aus den Alupackungen“ und verwandeln sich zurück in Kaninchen (besser: in Teile derselben), sie erinnern sich ihrer warmen Ställe, des duftenden Strohs der Kindheit, wittern so etwas wie Heimat und Nähe mit ihren „rosigen Nasen“. Rosig sind jedoch nicht nur ihre Nasen, auch ihre Haut ist rosig, denn man hat ihnen das Fell abgezogen. Auch der „Volkssturmjunge“, der so gern ihre weichen Ohren streichelte, hat seine Hände verloren. Das sind schroffe Querschläger, die das möglicherweise aufkommende Hasen- und Heimatgefühl stören sollen, ebenso wie es auf andere Weise kalte, technische Küchenvokabeln wie „Edelstahlspüle“, „Ceranfeld“ oder „Mikrowelle“ unternehmen. Und ich habe ein wenig den Eindruck, dass vom „Land unserer Väter“ auch mehr als siebzig Jahre nach dem Ende des letzten Weltkriegs in Anbetracht des „Bluts im Boden“ selbst in Gedichten höchstens geflüstert werden darf. Zwischen „Gefrierbrand“ und „Kaninchensprache“ klaffen jedenfalls Welten. Und die Frage ist, ob sich die notwendig verletzte, gebrochene Kaninchensprache der Poesie, die auch das Warme, Idyllische und Heitere einschließt, gegen den um sich greifenden. gleichsam offiziellen staatlichen und medialen Gefrierbrand wird behaupten können. Oleschinskis sensibler, hochartifizieller Text, mit dem sie zur Lyrik zurückfand, ist voller Widersprüche, Überraschungen und Zweifel, voller Zwischentöne und Mehrdeutigkeiten – ein exzellentes Zeitgedicht. Brigitte Oleschinski wurde 1955 in Köln geboren und lebt in Berlin. Neben ihrer Tätigkeit als Zeithistorikerin veröffentlicht sie seit 1990 Gedichte und Essays. Das vorgestellte Gedicht findet sich in „Aus Mangel an Beweisen. Deutsche Lyrik 2008-2018“, Wunderhorn Verlag, Heidelberg 2018. Kommentar, 01.06.2019
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