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Rolf Haufs
Kinderjuni

Der Wunsch alles zu sagen
Der Schmerz alles zu tun
Wir nehmen es leicht
Blätterhimmel kühlt unsere Haut
Noch wund von den Splittern des Krieges
Ja. Diese Geräusche. Sie sind da
Und die Bilder von den Sternen
Aufgehoben im Traum

Mich seh ich abgefallen seh mich
Leereleicht. Immer noch kreisend
Über Wunschgärten
Über Straßen nicht endender Sommer
Immer noch die unmöglichen Begehren
Wir warten schon wieder
Wir sterben schon wieder

Einmal war die Straße heiß wie im
Kinderjuni. Tausendschön duftete
Meine kleine verletzte Mutter lüftete das Zimmer
Ferne rollten die Menschenzüge
Brandroter Himmel über den Steinen
Schrie daß die Seele
Beschädigt lebenslang



  Der gelbe Akrobat – Neue Folge 34

Michael Buselmeier
Idylle mit Störgeräuschen



Unter den Themen, die den Dichter Rolf Haufs lebenslang umge­trieben haben, dominiert das Auto­bio­graphi­sche, zuge­spitzt und radi­kali­siert in Ge­stalt von Rück­blicken auf seine Kriegs- und Nach­kriegs­kind­heit in Rheydt am Nieder­rhein, wo der 1935 in Düsseldorf Geborene aufgewachsen ist. Mal spricht das lyrische Subjekt eher dis­tan­ziert in der Ich-Form von dieser Zeit, ein andermal ver­all­ge­meinernd als „wir“, als erlebendes und erlei­dendes Kol­lektiv, und zwar nicht selten im selben Gedicht.
  „Kinderjuni“ erschien zuerst in dem Band „Juni­ab­schied“ aus dem Jahr 1984. „Wir nehmen es leicht“ heißt es anfangs, wir wandeln als Kinder in der Sonne und ahnen noch nichts von den Wunden, aus denen wir schon bald bluten werden. In die lichten In­bilder vom „nicht en­denden Sommer“, den „Wunsch­gärten“, dem küh­lenden Blätter- und Sternen­himmel, in das „unmög­liche“ Begeh­ren der Ju­gend, „alles zu sagen“ und „alles zu tun“, drängt sich die krude Geschichte mit schrillen Stör­ge­räuschen: Die Haut ist „noch wund von den Split­tern des Krie­ges“; und das von seiner Fami­lie oder vom rechten Glauben „abge­fallene“ und „leere­leichte“ Ich harrt, vom Singular in den Plural wechselnd, der kommenden Schrecken. „Wir warten schon wieder / Wir sterben schon wieder“. Mag sein, dass sich hier die in den 80er Jahren weit ver­breitete Angst vor dem „dro­henden Atomtod“ einge­schli­chen hat.
  In der dritten Strophe rückt die Erinnerung in ihrer für Haufs typischen Ambi­valenz noch etwas näher heran. Da steht das Kind wie im Märchen („einmal…“) auf der heißen Juni­straße, Sommer­blumen duften zutraulich, und „meine kleine ver­letzte Mutter“ lüftet das Zimmer, so wie es Haus­frauen früher getan haben. Doch in der Ferne rollen, man meint es zu hören, „die Menschen­züge“ vorbei, und ein „brandroter Himmel“ deutet unmiss­ver­ständ­lich auf die bis heute unbe­wältigten Kriegs­gräuel hin. „Schrie daß die Seele / Beschädigt lebens­lang“. Auch die mit Haus­arbeit beschäftigte Mutter wurde offenbar im Krieg „verletzt“, trägt Narben. Aber wer schreit da so gellend und ist für sein weiteres Leben see­lisch „be­schädigt“? Die Mutter, oder am Ende doch eher das lyrische Subjekt, das es auch in diesem bedeut­samen Moment ver­meidet, „ich“ zu sagen?
  Rolf Haufs zählt zu den produk­tivsten deutschen Poeten in der zweiten Hälfte des 20. Jahr­hunderts. Wie viele von ihnen war er miss­trauisch gegenüber Reimen, Metren und anderen über­lieferten Formen des Lyrischen. Gottfried Benn mit seinen schnod­drigen All­tags­versen und Günter Eich dürften ihn angeregt haben. Seine Sprache ist nüchtern und sehr präzis, dabei melancho­lisch grundiert und reich an Varia­tionen; sie neigt ge­legent­lich zu harten Brüchen, zu sarkastischen, ja zyni­schen Tönen. Ironie und Selbst­ironie sind ihr eigen, eine lakonische Dichte der Bilder, leise und wie neben­bei. Haufs selbst empfand sich, im Alter von Krank­heit ge­zeich­net, gern als „Schmerzens­mann“ oder auch als „Käfer im Marme­laden­eimer“, immer aus­sichts­loser stram­pelnd. Doch „bei Sonnen- / Untergang geht die letzte Fähre / Wir wollen ans andere Ufer“.

Rolf Haufs wurde 1935 in Düsseldorf geboren und kam 1960 nach West­berlin. Von 1972 bis 1999 arbei­tete er als Literatur­redak­teur am Sender Freies Berlin. Er ver­öffent­lichte 13 Ge­dicht­bände, ferner lyri­sche Prosa, Hör­spiele und Kinder­bücher. Haufs starb im Juli 2013. Das vor­gestell­te Gedicht stammt aus dem von Christoph Buchwald he­raus­gege­benen Band „Aufgehobene Briefe“, Hanser Verlag 2001. Wir danken dem Verlag für die Wieder­gabe im Kontext des Gedicht­kommentars.



Band 1
 
  Band 3  
M. Braun & M. Buselmeier
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01.10.2013



 

 

Gedichte, kommentiert
von Michael Braun und
Michael Buselmeier

    Rolf Haufs
Liste
Gefördert vom
Deutschen Literaturfonds



  102   Brigitte Oleschinski
    
wie die Wörter auftauen
  101   Franz Josef Czernin
    
dunkel ortlos, hergezogen
  100   Johann P. Tammen
    
Ein Poet nimmt Platz
  99   Joseph Kopf
    
Ich liebe Schritte, die ins Leere gehn
  98   Oleg Jurjew
    
Zum Andenken an den Kater Nero
  97   Sandra Burkhardt
    
Die Bahn einer Meeresschildkröte
  96   Ernst Blass
    
An Gladys
  95   Michael Buselmeier
    
Holzpuppe
  94   Heiner Müller
    
Traumwald
  93   Thomas Böhme
    
Neunundzwanzigster Februar
  92   Katrine von Hutten
    
Beschreibung
  91   Dieter M. Gräf
    
Nach Mattheuer
  90   Arnfrid Astel
    
Leda
  89   Michael Krüger
    
Im Winter
  88   Ralph Dutli
    
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  86   Wulf Kirsten
    
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  85   Maren Kames
    
Im Siel
  84   Gregor Laschen
    
Drüben, im ›Winkel von Hardt‹
  83   Christoph Wenzel
    
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Ja, bin unterwegs
  81   Kenah Cusanit
    
Gottesgedicht, unberuhigt
  80   Sascha Kokot
    
sobald die Stadt ...
  79   Ror Wolf
    
Dritter unvollständiger Versuch
  78   Horst Bingel
    
Felsenmeer
  77   Tristan Marquardt
    
nachts, ich laufe nach hause
  76   Harald Gerlach
    
Gründe, linkselbisch
  75   Birgit Kreipe
    
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  74   Hanns Cibulka
    
Böhmischer Rebstock
  73   Karin Fellner
    
Eine Zeitfalte weiter
  72   David Krause
    
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An manchen Tagen
  70   Harry Oberländer
    
kurz vor der revolution
  69   Mara-Daria Cojocaru
    
Ich bin
  68   Hilde Domin
    
Antwort
  67   Elisabeth Borchers
    
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Großjean, der aus einem ...
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Tessiner beinhaus. wandbild
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Da ist es
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Man sagt
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Elster
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  56   Uwe Kolbe
    
Heidelberg, den 14ten August
  55   Sonja vom Brocke
    
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  53   Jan Wagner
    
im brunnen
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Frontier
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Uraniafalter
  50   Mirko Bonné
    
Der Zischelwind
  49   Judith Zander
    
fürs erste leb im später
  48   Andreas Rasp
    
diese steine hier
  47   Marcus Roloff
    
hl. grab, eingang wahlkapelle
  46   Clemens J. Setz
    
Motte
  45   Martina Weber
    
jetzt, da die letzten bilder verschwunden sind
  44   Paul Zech
    
Der Nebel fällt
  43   Klaus Merz
    
Expedition
  42   Christian Lehnert
    
Du bist die Aussicht  ...
  41   Àxel Sanjosé
    
Zum Abschied hell ...
  40   Ulrike Draesner
    
feld elternlos
  39   Ursula Krechel
    
Weiß wie
  38   Heinrich Detering
    
Kilchberg
  37   Hendrik Rost
    
Requiem
  36   Walle Sayer
    
Vom Flüchtigschönen
  35   Nico Bleutge
    
grauwacke
  34   Rolf Haufs
    
Kinderjuni
  33   Thomas Rosenlöcher
    
Die Hoffnungsstufen
  32   Jan Koneffke
    
Dem toten Kind in einer Oktobernacht
  31   Arne Rautenberg
    
drei amseln
  30   Oskar Loerke
    
Ans Meer
  29   Jean Krier
    
„Alles ist in den besten Anfängen“
  28   Werner Laubscher
    
Winterreise. Wintersprache
  27   Wolfgang Schlenker
    
stichwort minimieren
  26   Christoph Meckel
    
Kind
  25   Günter Grass
    
Die Vorzüge der Windhühner
  24   Jürgen Theobaldy
    
Blume mit Geruch
  23   Ann Cotten
    
Rosa Meinung
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Edoms Nacht
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Belegte Brotzeit
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Allein
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muxmäuschen
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in gauguins alten basketballschuhen
  17   Konstantin Ames
    
dreißig lenze
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Auf sommerlichem Friedhof
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waage, vorm wasser
verchromt, gestählt
  13   Marion Poschmann
    
latenter Ort
  12   Rainer Malkowski
    
Bist du das noch?
  11   Gerhard Falkner
    
die roten schuhe
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Pro domo et mundo
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die möglichkeit einer verwechslung ...
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     Lass rauschen Lied ...
  7   Ulrich Zieger
     an den vater von sem,
  6   Elisabeth Langgässer
     Erster Adventssonntag
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