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Franz Josef Czernin
Die hinter Eis und Nacht und Graus dunkel ortlos, hergezogen, halbwegs himmel-, schattenreich, da mir irrlichternd weiter vor- und nachtanzst, ferner wild aus reihen; jeder schimmer davon unter-, übergang, viel sternumschweifen hellauf lockt mich, kaum gehörig hattest dies arglüstern in den kreis gebogen; stets fortlaute, -laufe, flüchtig unterwandert, überflogen, kreuz hier, quer umgeisternd wirbel, stimmen schauerst gründlich, glanzwund reisst zu boden; wirr dies wiederpaart, da mich dagegen fehl verhallte, sprunghaft immer vor-, nachtfahrend dich verschreiend, flockendicht durch weh und eis; mich grabenschwarz verweist, schmeisst aus der runde unversehens ganz: in finstern sind, höchstoben.
Michael Braun
Die poetische Passion des Dichters Franz Josef Czernin ist sein leidenschaftlicher Sinn für Verwandlungen. Für zentrale Autoren der Weltliteratur hat er schon akribischste Übersetzungen und Übertragungen vorgelegt, etwa für William Shakespeare. Die Formen der Verwandlung, die Czernin bevorzugt, gehen über die traditionellen Figurationen der Überschreibung, Kontrafaktur, Permutation und Transfiguration weit hinaus. Sein Begriff von »Metamorphose« zielt auf eine wesentliche, ja elementare Verwandlung eines zugrunde liegenden Ursprungstextes. Er gleicht einer »radikalen Desevolution«: »Jeder neue Zusammenhang kann jeden anderen bis in seine Bestandteile vereinfachen, ja zerstören, doch ebenso neue Zusammenhänge und denkbar grosse Komplexität schaffen.« So heißt es in dem grundlegenden Essay »Poesie, Metamorphosen und die Rolle des Autors« (Berlin, Brueterich Press 2015), in dem Czernin seine Theorie der Verwandlung sehr extensiv auslegt und daraus ein Modell entwickelt, das davon ausgeht, dass jeder einzelne Vers in einem Gedicht die Erzeugungsregeln und Verwandlungsmodi für alle denkbaren poetischen Kombinationen und Rekombinationen in sich trägt Mehr noch: Jedes Gedicht antizipiert nach seiner Auffassung alle möglichen Gedichte durch die Variation und Permutation bestimmter Kombinationsregeln.
Dieser strenge Begriff von Metamorphose liegt auch Czernins Verwandlungen des spätromantischen »Winterreise«-Zyklus des Dichters Wilhelm Müller zugrunde. Bereits der Titel »reisen, auch winterlich« markiert ja die semantische Zerlegung und Öffnung der ursprünglichen Bedeutungsrichtung an. Aus einer »Winterreise« wird die Potentialität unterschiedlicher Reisen, die »auch winterliche« beinhalten, aber vor allem in die Landschaft der Wörter führen. Czernins Müller-Verwandlungen ist das letzte Gedicht aus der »Winterreise« vorangestellt, »Der Leiermann«. Dieses »Leiermann«-Gedicht, 1821/22 entstanden, spricht von einem geheimnisvollen Drehorgelspieler, der in völliger winterlicher Erstarrung und Verlassenheit sein Instrument bedient – in sinnloser Endlosschleife. Die Ansprache an den »wunderlichen Alten« am Ende des »Leiermann«-Gedichts bringt die Todesverfallenheit des Textes noch einmal in eine Schwebe – selbst wenn im »Leiermann« der Tod inkarniert ist, kann man das Angebot des Ichs, das »eigene Lieder« offeriert, auch als Herausforderung lesen, von der immergleichen Todesmelodie abzurücken: Wunderlicher Alter,/ Soll ich mit dir gehn?/ Willst zu meinen Liedern/ Deine Leier drehn?« Das vorliegende Gedicht aus Czernins Verwandlungs-Zyklus »reisen, auch winterlich« ist selbst eine Art und Weise, eine Leier zu drehen, allerdings in so artifizieller Weise, dass immer neue Bedeutungen qua Neuverknüpfung der Wörter und Wortelemente daraus entstehen. Der Text knüpft an Wilhelm Müllers »Die Täuschung« an, eine Verszeile daraus ist dem Gedicht vorangestellt. Das Gedicht selbst schöpft sein Material durchaus aus der spätromantischen Topik des Urtextes, dekonstruiert das Material aber vollständig, um es dann in vorsätzlich verzögerter, den melancholischen Volksliedton aushebelnder Rhythmik neu zusammenzufügen. Und zwar in einer Weise zusammenzufügen, dass in jeder Verszeile die vormals geschlossene Bildlichkeit aufgebrochen und in dialektisch vertrackter Weise neu kombiniert wird. »Fremd bin ich eingezogen, / fremd zieh ich wieder aus«: Der berühmte Eingangsvers der »Winterreise« tönt hier nach in dem Partizip »hergezogen«, dem selbst wie jeder poetischen Fügung eine Mehrdeutigkeit innewohnt. Alles in diesem Gedicht, das ein langsames Nachbuchstabieren verlangt, ist im Übergang, der Sinn sucht immer einen Gegensinn, der in neue Bezirke führt. Und es verwebt kunstvoll semantische Oppositionen, verwandelt lautliche und semantische Verwandtschaften in »Unverwandtschaften«: »dunkel – hellauf«, »schattenreich – himmelreich«, »untergang – übergang«, »unterwandert – überflogen« »vorfahren – nachtfahren«, »kreuz – quer«. Manchmal, so betont Czernin in seinem fabelhaften poetischen Logbuch »Das andere Schloss«, sei »Unverwandtschaft« wirksamer als Verwandtschaft; »das Ineinander von beidem, ihre Verschlingung erzeugt Form.« Insofern haben wir es bei der Verwandlung von Müllers »Täuschung« mit einer sehr subtilen Form von »Verschlingung« zu tun. In einer zauberhaften essayistischen Miniatur, die dem Gedichtband »reisen, auch winterlich« beigefügt ist, wendet Franz Josef Czernin Walter Benjamins Bild vom »Engel der Geschichte« auch auf das permanente Ineinander von Altem und Neuem an, das in jedem substantiellen Gedicht realisiert wird. Seiner Überzeugung folgend, dass in jedem großen Gedicht auch die Möglichkeit aller anderen großen Gedichte enthalten sein muss, entwirft Czernin eine Art Weltformel moderner Poesie: »Sagt und zeigt nicht alle Poesie seit jeher dasselbe? Wenigstens eine Poesie, die Liebe, Verlassenheit, Vergänglichkeit, Sterben und Tod als ihre Gegenstände sucht? Warum aber sagt und zeigt sie dann wieder und wieder anders?« Franz Josef Czernin ist ein Meister der Verwandlung, der Adjektive und Wortkombinationen in seinen Gedichten als paradoxe Wortpaare (»wiederpaart«), Oxymora (»glanzwund«) oder als Contradictio in adiecto anlegt. Eine kleine poetische Kosmologie, die hier im »Dunkel« beginnt, dann vom »Irrlichtern«, »Schimmern« und »Sternumschweifen« illuminiert wird, um schließlich wieder im »finstern« zu landen – ein stets offener, unabschließbarer Prozess. Franz Josef Czernin,
1952 in Wien geboren, veröffentlicht seit 1978 Gedichte, Essays, Verwandlungen und Theaterstücke. Er lebt in Wien und in Rettenegg (Steiermark). Sein Werk wurde mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet, zuletzt mit dem H.C. Artmann-Preis (2012) und dem Ernst Jandl-Preis (2015). Das vorliegende Gedicht ist in dem Band reisen, auch winterlich (Carl Hanser, München 2019) abgedruckt.
01.05.2019
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