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Hendrik Rost
Requiem

Einmal rief Thomas Kling mich an, als ich in Berlin lebte,
auf Zeit in einem Raum mit aufblasbarem Bett
und Telefon, zweiter Hinterhof, lebendig begraben.
Keine Ahnung, woher er die Nummer hatte. Mensch,
ich muss mit dir reden, dröhnte der Meister. Und redete.
Ich nickte, ein Kind, das magisch denkt.

Er war es leibhaftig, ich kannte die Stimme –
ich hatte ihn einmal lesen erlebt: Er saß beim Buchhändler
verdeckt von einem Stapel Wälzer am Verkaufstisch
und skandierte mit Verve seine Verse.
Immer wieder drehte er die Augen auf Weiß.
Nach einer Stunde fuhr er hoch: Alles Ärsche, zischte er,

die verstehen mich nicht. Und hatte Recht.
Ich kam nicht dazu, irgendwas zu sagen
oder ihn zu fragen, wie es ihm geht, wo er ist. Kling:
Ich beobachte, was du so machst. Dann legte er auf.
So schweigt er, wie er spricht mit Menschenstimme.
Was hatte er gesagt? Nimm deine Zunge und geh.



  Der gelbe Akrobat – Neue Folge 37

Michael Braun
Eroberung des Mundraums



Vor nunmehr acht Jahren ist der große Sprach­ekstatiker Thomas Kling gestorben, ein Dichter, der sich mit der elektri­sie­renden Präsenz seiner Auftritte ins Gedächt­nis seiner Zeit­genossen ein­ge­brannt hat. Seine Stimme ist noch da, fühlbar für alle, die ihm jemals begeg­net sind, sie spricht weiter ihre schroff gefüg­ten, die Materia­lität der Sprache markie­renden Verse in unseren Körper und in unsere Träume hinein.
  In diesem bewegenden Gedicht von Hendrik Rost ist der Virtuose der Sprach­instal­lation wieder auf­er­stan­den, in der ganzen Wucht seiner kom­muni­kativen Er­oberungs­stra­tegie. Wer mit Thomas Kling ins Gespräch kam, musste erstmal ein Wechsel­bad der zarten An­nähe­rung und schrof­fen Zurück­weisung über sich ergehen lassen. Es redete erst einmal nur „der Meis­ter“ – und waren diese Attacken der Ein­schüchte­rung erst einmal über­standen, durfte man sich seiner Auf­merk­sam­keit sicher sein.
  Zwei unterschiedliche Dichtertypen treffen in diesem Gedicht aufeinander: der „dröhnende Meister“, der jeden Gesprächs­partner zuerst seine Dominanz spüren lässt, und der irritierte, zögernde, in sich ver­krochene und schließ­lich stumme Poet, der vom Meister zur Rede gestellt wird. Das lyri­sche Subjekt wird unter Be­obach­tung eines mächtigen Kollegen gestellt – und zieht sich zurück auf jenes Vermögen, das den Dichter aus­zeichnet: die Fähig­keit der ruhigen Selbst­verge­wis­se­rung. In seinem Gedicht­band „Licht für andere Augen“ (2013) befasst sich Rost mit den Kernzonen unserer Existenz: Es ist eine Poe­sie der letz­ten Dinge, die sich mit dem Skandal der Sterb­lich­keit, den Zuständen schwe­rer Krank­heit, der Vergäng­lich­keit und dem Ver­gehen beschäf­tigt und dagegen immer wieder die Figu­ratio­nen des Leben­digen setzt – die Ver­messung der Welt aus der Per­spek­tive von Kindern.
  Hendrik Rost ist im Grunde ein poetischer Antipode Thomas Klings: ein Autor, der sich das „schnur­gerade Schauen“ und die intime Nähe zu den Dingen zum Ziel gesetzt hat, zugleich aber streng die Wahr­neh­mungs­voraus­set­zungen reflek­tiert, unter denen dieses Schauen möglich ist. Statt wie Kling die Wörter extremen Zer­reiß­proben der Stauchung, Ver­schiebung und Zer­trümm­erung auszu­setzen, ver­traut Rost auf poeti­sche Nüchtern­heit und die Mög­lich­keit einer un­mittel­baren Präzi­sion und Luzi­dität der Sprache. Er favori­siert eine Poetik der dis­tan­zierten Nähe, den Versuch, die Fakti­zität der Dinge und ihre mythi­sche Auf­ladung zu erkennen.
  Das „Requiem“ ist ein poetisch eindringlicher Versuch über die Vergäng­lich­keit. Der tote Meister, der mit seiner sugges­tiven Stimme das Ich er­schüttert, wird hier noch einmal mit seiner „Men­schen­stimme“ ver­gegen­wärtigt. Zu­gleich leis­tet er so etwas wie die schöpfer­ähn­liche Arbeit der Wieder­erweckung. Denn die berüh­rende letzte Vers­zeile lässt jene Geschichte des Markus-Evan­geliums anklingen, in der Jesus einen Gelähmten heilt und anschlie­ßend auf­fordert: „Nimm dein Bett und geh.“ Auch gibt es An­klänge an die Wieder­erweckung des La­zarus. Aus seinem Zustand des „Lebendig-Begra­ben“-Seins wird das Subjekt durch den Anruf des Meisters ins Leben und Schrei­ben zurück­geholt. Zugleich er­weist dieser Vers dem poe­tischen Pro­pheten des „Mundraums“ seine Reverenz. „Nimm deine Zunge und geh“: So werden in diesem Doppel­porträt die so gegen­sätz­lichen Dichter­typen am Ende im Modus des „Gehens“ mit­einander ver­bunden. Der „Meister“ geht ins ewige Ver­stummen, sein schüch­terner Zu­hörer kann ins Sprechen zurück­kehren.

Hendrik Rost, geboren 1969 in Burgsteinfurt in West­falen, studierte nach einem Auf­ent­halt in den USA Ger­manistik und Philosophie in Kiel und Düsseldorf. Er lebt heute als freier Autor und Korrektor in Hamburg und ist pas­sio­nierter Wellen­reiter. Das vor­lie­gende Gedicht ist dem Band „Licht für andere Augen“ (Göttingen, Wallstein Verlag 2013) entnommen.
Wir danken den Verlag für die Wiedergabe im Rahmen dieses Gedicht­kommentars.



Band 1
 
  Band 3  
M. Braun & M. Buselmeier
Der gelbe Akrobat (1. Band)
100 deutsche Gedichte der Gegenwart,
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Taschenbuch
360 Seiten, 18.80 Euro
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  M. Braun & M. Buselmeier
Der gelbe Akrobat (3. Band)
60 deutsche Gedichte der Gegenwart,
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03.01.2014



 

 

 

Gedichte, kommentiert
von Michael Braun und
Michael Buselmeier

    Hendrik Rost
Liste
Gefördert vom
Deutschen Literaturfonds



  102   Brigitte Oleschinski
    
wie die Wörter auftauen
  101   Franz Josef Czernin
    
dunkel ortlos, hergezogen
  100   Johann P. Tammen
    
Ein Poet nimmt Platz
  99   Joseph Kopf
    
Ich liebe Schritte, die ins Leere gehn
  98   Oleg Jurjew
    
Zum Andenken an den Kater Nero
  97   Sandra Burkhardt
    
Die Bahn einer Meeresschildkröte
  96   Ernst Blass
    
An Gladys
  95   Michael Buselmeier
    
Holzpuppe
  94   Heiner Müller
    
Traumwald
  93   Thomas Böhme
    
Neunundzwanzigster Februar
  92   Katrine von Hutten
    
Beschreibung
  91   Dieter M. Gräf
    
Nach Mattheuer
  90   Arnfrid Astel
    
Leda
  89   Michael Krüger
    
Im Winter
  88   Ralph Dutli
    
Salzzauber
  87   Christiane Heidrich
    
Today I am functional (1)
  86   Wulf Kirsten
    
die rückkehr der wölfe
  85   Maren Kames
    
Im Siel
  84   Gregor Laschen
    
Drüben, im ›Winkel von Hardt‹
  83   Christoph Wenzel
    
ländlich, der mundraum
  82   Werner Lutz
    
Ja, bin unterwegs
  81   Kenah Cusanit
    
Gottesgedicht, unberuhigt
  80   Sascha Kokot
    
sobald die Stadt ...
  79   Ror Wolf
    
Dritter unvollständiger Versuch
  78   Horst Bingel
    
Felsenmeer
  77   Tristan Marquardt
    
nachts, ich laufe nach hause
  76   Harald Gerlach
    
Gründe, linkselbisch
  75   Birgit Kreipe
    
schienen stillgelegt
  74   Hanns Cibulka
    
Böhmischer Rebstock
  73   Karin Fellner
    
Eine Zeitfalte weiter
  72   David Krause
    
Wolken
  71   Jürgen Nendza
    
An manchen Tagen
  70   Harry Oberländer
    
kurz vor der revolution
  69   Mara-Daria Cojocaru
    
Ich bin
  68   Hilde Domin
    
Antwort
  67   Elisabeth Borchers
    
Zukünftiges
  66   Günter Herburger
    
Großjean, der aus einem ...
  65   Georg Leß
    
Kondorlied
  64   Thomas Kling
    
Tessiner beinhaus. wandbild
  63   Rainer René Mueller
    
Da ist es
  62   Ernst S. Steffen
    
Man sagt
  61   Henning Ziebritzki
    
Elster
  60   Jürgen Brôcan
    
Fremde ohne Souvenir
  59   Carolin Callies
    
wackersteine im wams
  58   Friedrich Ani
    
Versehrte Verse
  57   Elke Erb
    
»Ursprüngliche Akkumulation«
  56   Uwe Kolbe
    
Heidelberg, den 14ten August
  55   Sonja vom Brocke
    
Kunde
  54   Sünje Lewejohann
    
krähen
  53   Jan Wagner
    
im brunnen
  52   Susanne Stephan
    
Frontier
  51   Silke Scheuermann
    
Uraniafalter
  50   Mirko Bonné
    
Der Zischelwind
  49   Judith Zander
    
fürs erste leb im später
  48   Andreas Rasp
    
diese steine hier
  47   Marcus Roloff
    
hl. grab, eingang wahlkapelle
  46   Clemens J. Setz
    
Motte
  45   Martina Weber
    
jetzt, da die letzten bilder verschwunden sind
  44   Paul Zech
    
Der Nebel fällt
  43   Klaus Merz
    
Expedition
  42   Christian Lehnert
    
Du bist die Aussicht  ...
  41   Àxel Sanjosé
    
Zum Abschied hell ...
  40   Ulrike Draesner
    
feld elternlos
  39   Ursula Krechel
    
Weiß wie
  38   Heinrich Detering
    
Kilchberg
  37   Hendrik Rost
    
Requiem
  36   Walle Sayer
    
Vom Flüchtigschönen
  35   Nico Bleutge
    
grauwacke
  34   Rolf Haufs
    
Kinderjuni
  33   Thomas Rosenlöcher
    
Die Hoffnungsstufen
  32   Jan Koneffke
    
Dem toten Kind in einer Oktobernacht
  31   Arne Rautenberg
    
drei amseln
  30   Oskar Loerke
    
Ans Meer
  29   Jean Krier
    
„Alles ist in den besten Anfängen“
  28   Werner Laubscher
    
Winterreise. Wintersprache
  27   Wolfgang Schlenker
    
stichwort minimieren
  26   Christoph Meckel
    
Kind
  25   Günter Grass
    
Die Vorzüge der Windhühner
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Blume mit Geruch
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Rosa Meinung
  22   Horst Samson
    
Edoms Nacht
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Belegte Brotzeit
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  7   Ulrich Zieger
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  6   Elisabeth Langgässer
     Erster Adventssonntag
  5   Levin Westermann
     wie ein fresko
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