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Judith Zander
fürs erste leb im später

  Der gelbe Akrobat – Neue Folge 49

Michael Braun
Protect me from what I want



Es ist die alte Geschichte, doch bleibt sie immer neu, und wem sie just passieret, dem bricht das Herz entzwei. Ob nun ein Jüngling ein Mädchen liebt oder einen anderen Jüng­ling, ob sich das Mädchen für den Jüngling ent­flammt oder für eine andere Frau – das Herz­zer­brechen ist ubi­quitär. Doch es ist bei Judith Zander nicht die alte Geschichte. Gut, sie demon­striert poetische Ton­ver­wandt­schaf­ten zu ver­trauten Dichte­rinnen: Zum „Fräu­lein von Roten­schild“ aus der Schauer­ballade von Annet­te von Droste-Hülshoff oder zur Welt­verloren­heit der Sylvia Plath, die Judith Zander vor einiger Zeit akri­bisch über­setzt hat. Vor allem aber ruft sie eine früh­voll­endete Poetin auf, die man einst die „pom­mer­sche Sappho“ genannt hat. Judith Zander, 1980 in Anklam in Pommern geboren, zitiert die genia­lische Barock­poetin Sibyl­la Schwarz, die Bür­ger­meister­tochter aus Greifswald, die be­reits als Fünf­zehn­jährige ergrei­fen­dere Verse für die alte Geschich­te des Lie­bes­schmerzes gefun­den hat als ihre poetischen Zeit­genossen. Und wann man die Verse an­schaut, die Judith Zander in ihrem poe­tischen Journal „manual nume­rale“ ge­sammelt hat, Gedichte, die ihren metrischen Schwung hinter einem mathe­mati­schen Kompo­sitions­prin­zip ver­stecken, so finden sich einige Paral­lelen zwi­schen Zanders „kratzigen Roman­zen“ und der Liebes­ver­zweif­lung der jungen Barock­poetin.
  Es sind beides Exer­zitien in poetischer Selbst­behaup­tung wider eine re­pres­sive Sprach- und Liebes-Ord­nung. Als eminent modern erscheinen bereits bei Sibylla Schwarz die emotio­nalen Ambiva­lenzen bei der Evo­kation der amou­rösen Passionen. In ihren kunst­vollen Sonet­ten wehrt das lyrische Subjekt von Sibylla Schwarz den Ansturm der Affek­te ab – bei gleich­zeiti­ger hoch­emotionaler Auf­ladung der Verse.
  Gegen die alte Geschichte des Liebes-Pathos setzt nun wiederum Judith Zan­der ihre poeti­sche Gegen­kraft der Auf­rauung, der ironischen Brechung und der frivolen Komik. Ihr Gedicht­band „manual numerale“ folgt ja einem extrem nüch­ter­nen kalen­dari­schen Bau­prinzip. Auf der linken Textseite stehen Ge­dichte, denen rein nume­risch einen Kalen­dertag voran­ge­stellt ist, also eine nackte Zahl zwischen 1 und 31. Auf der rechten Seite steht eine Monats-Zahl zwischen 1 uns 12, und diese Zahlen geben die Zeilenzahl des jeweiligen Gedichts vor. All diese Er­nüchte­rungs-Ans­tren­gun­gen dienen dazu, eine falsche Senti­menta­lisie­rung ab­zu­wehren und in den Gedich­ten selbst eine eben­falls zitierte Goethe-Zeile als poetische Maxime auf­zu­bauen, die da lautet: „kühl bis ans Herz hinan“. Und wenn das Feuer des Liebes­schmer­zes und die kühle poetische Gegenrede zu­sammen­kommen, dann arti­kuliert sich das in iro­nischer Distan­zierung, wie in jenem zitierten Gedicht, das in seinen beiden Schluss­zeilen die seelen­verwandte Barock­poetin aufruft.
  Hier wird sie also im Zitat als „Antipodin“ aufgerufen, die junge Sibylla – mit­samt ihrer histo­rischen Herzens­freun­din Judith Tank. Wie man bereits an diesen Sieben­zeiler er­kennen kann, ist Judith Zander wild ent­schlos­sen, die weit ver­brei­teten Vor­behalte gegen­über einem Sti­lmittel wie dem Reim auf­zulösen. „Ich dachte lange“, so Zander in einem Rund­funk­gespräch, „dass so etwas wie Reim aus­gereizt sei. Aber jetzt habe ich mir die Aufgabe gestellt, diese alte Form auf­zu­frischen, Reime zu finden, die es so noch nicht gegeben hat.“ Dieses Auf­fri­schungs­verfahren wendet sie auch auf den frommen Kirchen­lied-Dichter Paul Gerhardt an, dessen Emphase und Appelle zur gott­ergebenen Daseins­freude sie konter­kariert mit den bitter­scharfen Senten­zen der Künstlerin Jenny Holzer. Die Liebe – auch sie fällt unter Holzers Verdikt „Protect me from what I want“: „und wo kein ausweg ist da bleibt / ein abweg und ein bleistift steht / geschrieben nicht: protect me oh  / from what I want oh mund spuck aus / Geh aus mein Herz bloß raus und mach / die herzklappe von außen zu“. „Kratzige Roman­zen“, bitter­scharfe Bänkel­lieder und schnod­drige Durch­querungen der Liebes­hoffnungs­losig­keit – Judith Zander revi­talisiert und ironi­siert zugleich die poetische Tradi­tion.

Judith Zander, geboren 1980 in Anklam, lebt in Berlin. Sie studierte Germanistik, Anglis­tik und Geschichte in Greifs­wald und anschließend am Literatur­ins­titut in Leipzig. 2010 gelangte sie mit ihrem Roman­debüt „Dinge, die wir heute sagten“ (dtv) auf die Short­list des Deut­schen Buch­preises. 2011 er­schien ihr erster Lyrik­band „oder tau“ (dtv). Das Gedicht „fürs erste leb im später“ ist ihrem Band „manual numerale“ (dtv, 2014) ent­nommen.
Wir danken Autorin und Verlag für die Wieder­gabe des Gedichts im Kontext der Kom­mentie­rung.



Band 1
 
  Band 3  
M. Braun & M. Buselmeier
Der gelbe Akrobat (1. Band)
100 deutsche Gedichte der Gegenwart,
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Taschenbuch
360 Seiten, 18.80 Euro
poetenladen Verlag 2011

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  M. Braun & M. Buselmeier
Der gelbe Akrobat (3. Band)
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Druckansicht  Zur Druckansicht - Schwarzweiß-Ansicht     01.01.2015

 

 

 

Gedichte, kommentiert
von Michael Braun und
Michael Buselmeier

    Judith Zander
Liste
Gefördert vom
Deutschen Literaturfonds



  102   Brigitte Oleschinski
    
wie die Wörter auftauen
  101   Franz Josef Czernin
    
dunkel ortlos, hergezogen
  100   Johann P. Tammen
    
Ein Poet nimmt Platz
  99   Joseph Kopf
    
Ich liebe Schritte, die ins Leere gehn
  98   Oleg Jurjew
    
Zum Andenken an den Kater Nero
  97   Sandra Burkhardt
    
Die Bahn einer Meeresschildkröte
  96   Ernst Blass
    
An Gladys
  95   Michael Buselmeier
    
Holzpuppe
  94   Heiner Müller
    
Traumwald
  93   Thomas Böhme
    
Neunundzwanzigster Februar
  92   Katrine von Hutten
    
Beschreibung
  91   Dieter M. Gräf
    
Nach Mattheuer
  90   Arnfrid Astel
    
Leda
  89   Michael Krüger
    
Im Winter
  88   Ralph Dutli
    
Salzzauber
  87   Christiane Heidrich
    
Today I am functional (1)
  86   Wulf Kirsten
    
die rückkehr der wölfe
  85   Maren Kames
    
Im Siel
  84   Gregor Laschen
    
Drüben, im ›Winkel von Hardt‹
  83   Christoph Wenzel
    
ländlich, der mundraum
  82   Werner Lutz
    
Ja, bin unterwegs
  81   Kenah Cusanit
    
Gottesgedicht, unberuhigt
  80   Sascha Kokot
    
sobald die Stadt ...
  79   Ror Wolf
    
Dritter unvollständiger Versuch
  78   Horst Bingel
    
Felsenmeer
  77   Tristan Marquardt
    
nachts, ich laufe nach hause
  76   Harald Gerlach
    
Gründe, linkselbisch
  75   Birgit Kreipe
    
schienen stillgelegt
  74   Hanns Cibulka
    
Böhmischer Rebstock
  73   Karin Fellner
    
Eine Zeitfalte weiter
  72   David Krause
    
Wolken
  71   Jürgen Nendza
    
An manchen Tagen
  70   Harry Oberländer
    
kurz vor der revolution
  69   Mara-Daria Cojocaru
    
Ich bin
  68   Hilde Domin
    
Antwort
  67   Elisabeth Borchers
    
Zukünftiges
  66   Günter Herburger
    
Großjean, der aus einem ...
  65   Georg Leß
    
Kondorlied
  64   Thomas Kling
    
Tessiner beinhaus. wandbild
  63   Rainer René Mueller
    
Da ist es
  62   Ernst S. Steffen
    
Man sagt
  61   Henning Ziebritzki
    
Elster
  60   Jürgen Brôcan
    
Fremde ohne Souvenir
  59   Carolin Callies
    
wackersteine im wams
  58   Friedrich Ani
    
Versehrte Verse
  57   Elke Erb
    
»Ursprüngliche Akkumulation«
  56   Uwe Kolbe
    
Heidelberg, den 14ten August
  55   Sonja vom Brocke
    
Kunde
  54   Sünje Lewejohann
    
krähen
  53   Jan Wagner
    
im brunnen
  52   Susanne Stephan
    
Frontier
  51   Silke Scheuermann
    
Uraniafalter
  50   Mirko Bonné
    
Der Zischelwind
  49   Judith Zander
    
fürs erste leb im später
  48   Andreas Rasp
    
diese steine hier
  47   Marcus Roloff
    
hl. grab, eingang wahlkapelle
  46   Clemens J. Setz
    
Motte
  45   Martina Weber
    
jetzt, da die letzten bilder verschwunden sind
  44   Paul Zech
    
Der Nebel fällt
  43   Klaus Merz
    
Expedition
  42   Christian Lehnert
    
Du bist die Aussicht  ...
  41   Àxel Sanjosé
    
Zum Abschied hell ...
  40   Ulrike Draesner
    
feld elternlos
  39   Ursula Krechel
    
Weiß wie
  38   Heinrich Detering
    
Kilchberg
  37   Hendrik Rost
    
Requiem
  36   Walle Sayer
    
Vom Flüchtigschönen
  35   Nico Bleutge
    
grauwacke
  34   Rolf Haufs
    
Kinderjuni
  33   Thomas Rosenlöcher
    
Die Hoffnungsstufen
  32   Jan Koneffke
    
Dem toten Kind in einer Oktobernacht
  31   Arne Rautenberg
    
drei amseln
  30   Oskar Loerke
    
Ans Meer
  29   Jean Krier
    
„Alles ist in den besten Anfängen“
  28   Werner Laubscher
    
Winterreise. Wintersprache
  27   Wolfgang Schlenker
    
stichwort minimieren
  26   Christoph Meckel
    
Kind
  25   Günter Grass
    
Die Vorzüge der Windhühner
  24   Jürgen Theobaldy
    
Blume mit Geruch
  23   Ann Cotten
    
Rosa Meinung
  22   Horst Samson
    
Edoms Nacht
  21   Christian Steinbacher
    
Belegte Brotzeit
  20   Bianca Döring
    
Allein
  19   Simone Kornappel
    
muxmäuschen
  18   Jörg Burkhard
    
in gauguins alten basketballschuhen
  17   Konstantin Ames
    
dreißig lenze
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Auf sommerlichem Friedhof
  15   Joachim Zünder
    
Die Finnische Bibliothek
  14   Kathrin Schmidt
    
waage, vorm wasser
verchromt, gestählt
  13   Marion Poschmann
    
latenter Ort
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Bist du das noch?
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die roten schuhe
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Pro domo et mundo
  9   Katharina Schultens
    
die möglichkeit einer verwechslung ...
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     Lass rauschen Lied ...
  7   Ulrich Zieger
     an den vater von sem,
  6   Elisabeth Langgässer
     Erster Adventssonntag
  5   Levin Westermann
     wie ein fresko
  4   Dirk von Petersdorff
     Raucherecke
  3   Ulrich Koch
     Danke
  2   Steffen Popp
     Fenster zur Weltnacht
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