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Jürgen Brôcan
Fremde ohne Souvenir
(Herme für Ernst Schnabel) Am Ende sind ihm Alkohol und Krücken und 150 Meter verschmierter Bürgersteig in derselben Straße geblieben, wo seine Bücher unverkauft in den Regalen dahingilbten. Mit einem roten Kofferradio auf dem Bauch fand man ihn, er hatte bis zuletzt zugehört, den keiner mehr hören wollte, ein Mann, der Meer und Luft liebte wie seine freie Meinung. Fliegen hieß Gewicht, Schwer- mut über Bord werfen: er flog von gestern nach morgen, er flog über Meridiane, Mienen, Beweggründe gleichermaßen, er flog vom Floß der Medusa durch biedere Polizistenhand in eine Glastür direkt hinein, er flog unersättlichen Auges mitten ins Auge des Hurrikans, als hätte er dort nicht schon die ganze Zeit über gelebt.
Michael Buselmeier Es mag Texte von Jürgen Brôcan geben, die sprachlich dichter, geschliffener, auch poetischer geformt sind als das hier aus primär inhaltlichen Motiven ausgewählte Gedicht. Doch sie alle berichten von Müll-Landschaften und warmen Grabfeldern, von einsamen Poeten und Polarforschern, und legen zugleich ein heute selten zu findendes Wissen vor. Denn Brôcan ist in der Kultur des alten Europa heimisch, er kennt sich besonders in der Natur aus, mit Pflanzen und Tieren, als deren Schüler er sich versteht. Er feilt an der Sprache, macht sie durchscheinend für die „duftende Verwesung“ der Erde. Deren Verfall interessiert ihn, verlassene Werkshallen, „Ödflächen“ im Ruhrgebiet, die von „Anfangswildnis“ zurückerobert werden, vom Fortschritt vergessene „Orte der Einkehr“ – eine „schiefe Mauer“, ein „verwucherter Garten“. In all dem entdeckt der Autor „Widerstand gegen die Linie, den Asphalt“, gegen „Planer“ und „Planierer“. Jürgen Brôcans Gedichte sind stilistisch unterschiedlich; stets materialreich, manchmal etwas sperrig, zeugen sie von einem hohen sprachlichen Aufwand. Sie erschließen sich nicht leicht, obwohl sie keineswegs metaphorisch verschlüsselt sind. Sie wirken ebenso reflektiert wie nuanciert, sind selten gereimt, dafür mit kostbaren Prägungen und Einsprengseln durchsetzt, worauf schon der nur scheinbar entlegene Bandtitel „Antidot“ („Gegengift“) hindeutet. Ein genaues Hinschauen auf die kleinen Dinge zeichnet sie aus: „Auf den Schwellen / gelbe Schleimpilze, Schneckenspuren, leuchtend wie Fiberglas.“ Neben Orten des schönen Verfalls faszinieren den in Dortmund lebenden Dichter tote, vergessene, oft auch gescheiterte Künstler, denen er Porträtgedichte widmet oder Hermen errichtet und mit denen er sympathisiert. Man erkennt Robert Schumann in der Anstalt Endenich, den englisch-deutschen Poeten Michael Hamburger in seinem Obstgarten in Middleton oder den strengen Sprachbewahrer Rudolf Borchardt in Italien, auch er als „leidenschaftlicher Gärtner“ bekannt. Es gibt Gedichte auf Naturforscher, Ethnologen, Kriegsphotographen, die zu Expeditionen in exotische Gegenden aufbrechen, wobei wiederum Wissensstoff als eine Art „Gegengift“ in die Texte einfließt, dazu mythologische Themen, zu deren rechtem Verständnis gelehrte Anmerkungen beitragen sollen. Der Religionsphilosoph Martin Buber und der „himmlische Zecher“ Alfred Mombert treten auf; Texte von John Ruskin werden paraphrasiert. Mit der hier vorgestellten „Herme“ ergeben sich kleinere Schwierigkeiten nur dann, wenn man über den Porträtierten und sein Lebenswerk wenig oder nichts weiß. In den 60er Jahren war Ernst Schnabel ein viel gerühmter Schriftsteller, Übersetzer (von Hemingway, Melville) und Funkregisseur; die Titel seiner Erzählungen, Reisebücher und seiner Berichte, etwa „Anne Frank. Spur eines Kindes“ (1958), waren allgegenwärtig. Er war Seemann und Pilot gewesen, im Zweiten Weltkrieg dann Offizier der Kriegsmarine, und entwickelte ab 1946 als Chefredakteur beim NWDR Radioprogramme, wie man sie vorher nicht gehört hatte und heute kaum noch kennt: literarisch hoch ambitioniert und experimentierfreudig. Mit seinen Reportagen sprach Schnabel ein Millionenpublikum an. Er adaptierte antike Stoffe, etwa „Der sechste Gesang“, ein Heimkehrer-Schicksal nach Homer, dem ich als Schüler 1956 vor dem Radiogerät beiwohnte, und schrieb das Libretto für Hans Werner Henzes Oratorium „Das Floß der Medusa“, dessen Hamburger Uraufführung 1968 in Tumulten unterging. In den 70er Jahren wurde es rasch still um ihn. Brôcans enggeführtes Gedicht arbeitet mit verdeckten Anspielungen. Schon der Titel „Fremde ohne Souvenir“ erinnert an einen gleichnamigen Erzählungsband Ernst Schnabels aus dem Jahr 1961. In betont einfachen, alltagsnahen Versen ist vom Fliegen und der Seefahrt die Rede und von der Freiheitsliebe des Radiopioniers, der „mitten ins Auge des Hurrikans“ flog – eine Anspielung auf sein Werk „Hurricane. Ein karibischer Wetterbericht“ (1966) und zugleich ein Hinweis auf das einsame Ende dieses Abenteurers, den im Alter „keiner mehr hören wollte“ und dessen „Bücher unverkauft“ blieben. Er starb vergessen 1986 in Berlin, „mit einem roten Kofferradio / auf dem Bauch.“ Jürgen Brôcan kam 1965 in Göttingen zur Welt. Seit 2001 lebt er in Dortmund. Er studierte Germanistik und Europäische Ethnologie, übersetzte 2009 Walt Whitmans „Grasblätter“. 2015 erschien sein Band „Holzäpfel“. Das vorgestellte Gedicht stammt aus dem Band „Antidot“, Edition Rugerup, Berlin und Hörby 2012. Wir danken Autor und Verlag für die Wiedergabe im Rahmen dieses Gedichtkommentars. Druckansicht
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