poetenladen    poet    web

●  Sächsische AutobiographieEine Serie von
Gerhard Zwerenz

●  Lyrik-KonferenzDieter M. Gräf und
Alessandro De Francesco

●  UmkreisungenJan Kuhlbrodt und
Jürgen Brôcan (Hg.)

●  Stelen – lyrische GedenksteineHerausgegeben
von Hans Thill

●  Americana – Lyrik aus den USAHrsg. von Annette Kühn
& Christian Lux

●  ZeitschriftenleseMichael Braun und
Michael Buselmeier

●  SitemapÜberblick über
alle Seiten

●  Buchladenpoetenladen Bücher
Magazin poet ordern

●  ForumForum

●  poetenladen et ceteraBeitrag in der Presse (wechselnd)

 

Jürgen Brôcan
Fremde ohne Souvenir
(Herme für Ernst Schnabel)


Am Ende sind ihm Alkohol
und Krücken und 150 Meter
verschmierter Bürgersteig in
derselben Straße geblieben,
wo seine Bücher unverkauft
in den Regalen dahingilbten.
Mit einem roten Kofferradio
auf dem Bauch fand man ihn,
er hatte bis zuletzt zugehört,
den keiner mehr hören wollte,
ein Mann, der Meer und Luft
liebte wie seine freie Meinung.
Fliegen hieß Gewicht, Schwer-
mut über Bord werfen: er flog
von gestern nach morgen, er
flog über Meridiane, Mienen,
Beweggründe gleichermaßen,
er flog vom Floß der Medusa
durch biedere Polizistenhand
in eine Glastür direkt hinein,
er flog unersättlichen Auges
mitten ins Auge des Hurrikans,
als hätte er dort nicht schon
die ganze Zeit über gelebt.


  Der gelbe Akrobat – Neue Folge 60

Michael Buselmeier
Schöner Verfall



Es mag Texte von Jürgen Brôcan geben, die sprachlich dichter, geschlif­fener, auch poeti­scher geformt sind als das hier aus primär inhalt­lichen Motiven ausge­wählte Gedicht. Doch sie alle be­richten von Müll-Land­schaften und warmen Grab­feldern, von ein­samen Poeten und Polar­forschern, und legen zugleich ein heute selten zu finden­des Wissen vor. Denn Brôcan ist in der Kultur des alten Europa heimisch, er kennt sich besonders in der Natur aus, mit Pflan­zen und Tieren, als deren Schüler er sich ver­steht. Er feilt an der Sprache, macht sie durch­schei­nend für die „duf­tende Ver­we­sung“ der Erde. Deren Verfall inter­es­siert ihn, ver­lassene Werks­hallen, „Öd­flächen“ im Ruhr­gebiet, die von „An­fangs­wildnis“ zu­rück­erobert werden, vom Fort­schritt ver­ges­sene „Orte der Ein­kehr“ – eine „schiefe Mauer“, ein „ver­wucherter Garten“. In all dem entdeckt der Autor „Wider­stand gegen die Linie, den As­phalt“, gegen „Planer“ und „Pla­nierer“.
  Jürgen Brôcans Gedichte sind stilistisch unter­schiedlich; stets material­reich, manchmal etwas sperrig, zeugen sie von einem hohen sprach­lichen Aufwand. Sie erschlie­ßen sich nicht leicht, obwohl sie keines­wegs meta­phorisch ver­schlüsselt sind. Sie wirken ebenso reflek­tiert wie nuan­ciert, sind selten gereimt, dafür mit kost­baren Prä­gungen und Ein­sprengseln durchsetzt, worauf schon der nur scheinbar ent­legene Band­titel „Antidot“ („Gegengift“) hindeutet. Ein genaues Hin­schauen auf die kleinen Dinge zeich­net sie aus: „Auf den Schwellen / gelbe Schleimpilze, Schnecken­spuren, leuchtend wie Fiber­glas.“
  Neben Orten des schönen Verfalls faszi­nieren den in Dortmund lebenden Dichter tote, vergessene, oft auch geschei­terte Künstler, denen er Porträt­gedichte widmet oder Hermen er­richtet und mit denen er sympathisiert. Man erkennt Robert Schu­mann in der Anstalt Endenich, den eng­lisch-deut­schen Poeten Michael Hamburger in seinem Obst­garten in Middleton oder den strengen Sprach­bewahrer Rudolf Borchardt in Italien, auch er als „leiden­schaft­licher Gärt­ner“ bekannt. Es gibt Gedichte auf Natur­forscher, Ethno­logen, Kriegs­photo­graphen, die zu Expe­di­tionen in exotische Ge­genden auf­brechen, wobei wiederum Wis­sens­stoff als eine Art „Gegen­gift“ in die Texte ein­fließt, dazu mytho­lo­gische Themen, zu deren rech­tem Ver­ständnis gelehrte Anmer­kungen beitragen sollen. Der Reli­gions­philosoph Martin Buber und der „himmlische Zecher“ Alfred Mombert treten auf; Texte von John Ruskin werden para­phra­siert.
  Mit der hier vorgestellten „Herme“ ergeben sich kleinere Schwie­rig­keiten nur dann, wenn man über den Por­trä­tier­ten und sein Lebens­werk wenig oder nichts weiß. In den 60er Jahren war Ernst Schnabel ein viel gerühmter Schrift­stel­ler, Über­setzer (von Hemingway, Melville) und Funk­regisseur; die Titel seiner Erzäh­lungen, Reisebücher und seiner Berichte, etwa „Anne Frank. Spur eines Kindes“ (1958), waren all­gegen­wär­tig. Er war Seemann und Pilot gewesen, im Zweiten Welt­krieg dann Offi­zier der Kriegs­marine, und ent­wickelte ab 1946 als Chef­redak­teur beim NWDR Radio­pro­gramme, wie man sie vorher nicht gehört hatte und heute kaum noch kennt: literarisch hoch ambitioniert und experi­mentier­freudig. Mit seinen Repor­tagen sprach Schnabel ein Millionen­publikum an. Er adap­tierte antike Stoffe, etwa „Der sechste Gesang“, ein Heim­kehrer-Schick­sal nach Homer, dem ich als Schüler 1956 vor dem Radio­gerät beiwohnte, und schrieb das Libretto für Hans Werner Henzes Orato­rium „Das Floß der Medusa“, dessen Hamburger Urauf­füh­rung 1968 in Tumulten unterging. In den 70er Jahren wurde es rasch still um ihn.
  Brôcans enggeführtes Gedicht arbeitet mit verdeckten Anspie­lungen. Schon der Titel „Fremde ohne Souvenir“ erin­nert an einen gleich­na­migen Erzäh­lungs­band Ernst Schnabels aus dem Jahr 1961. In betont ein­fachen, all­tags­nahen Versen ist vom Fliegen und der Seefahrt die Rede und von der Frei­heits­liebe des Radio­pioniers, der „mitten ins Auge des Hurrikans“ flog – eine Anspie­lung auf sein Werk „Hurricane. Ein kari­bischer Wetter­be­richt“ (1966) und zugleich ein Hinweis auf das einsame Ende dieses Aben­teurers, den im Alter „keiner mehr hören wollte“ und dessen „Bücher unver­kauft“ blieben. Er starb ver­gessen 1986 in Berlin, „mit einem roten Kofferradio / auf dem Bauch.“

Jürgen Brôcan kam 1965 in Göttingen zur Welt. Seit 2001 lebt er in Dortmund. Er studierte Germanistik und Euro­päische Ethnologie, übersetzte 2009 Walt Whitmans „Grasblätter“. 2015 erschien sein Band „Holzäpfel“. Das vor­gestellte Gedicht stammt aus dem Band „Antidot“, Edition Rugerup, Berlin und Hörby 2012. Wir danken Autor und Verlag für die Wieder­gabe im Rahmen dieses Gedicht­kommentars.

Druckansicht  Zur Druckansicht - Schwarzweiß-Ansicht     02.12.2015




Band 1
 
  Band 3  
M. Braun & M. Buselmeier
Der gelbe Akrobat (1. Band)
100 deutsche Gedichte der Gegenwart,
kommentiert
Taschenbuch
360 Seiten, 18.80 Euro
poetenladen Verlag 2011

Weitere Details   
portofrei online   

  M. Braun & M. Buselmeier
Der gelbe Akrobat (3. Band)
60 deutsche Gedichte der Gegenwart,
kommentiert
Broschiert mit farb. Vorsatz
216 Seiten, 18.80 Euro
poetenladen Verlag 2019

Weitere Details   
portofrei online   

 


 

 

 

Gedichte, kommentiert
von Michael Braun und
Michael Buselmeier

    Jürgen Brôcan
Liste
Gefördert vom
Deutschen Literaturfonds



  102   Brigitte Oleschinski
    
wie die Wörter auftauen
  101   Franz Josef Czernin
    
dunkel ortlos, hergezogen
  100   Johann P. Tammen
    
Ein Poet nimmt Platz
  99   Joseph Kopf
    
Ich liebe Schritte, die ins Leere gehn
  98   Oleg Jurjew
    
Zum Andenken an den Kater Nero
  97   Sandra Burkhardt
    
Die Bahn einer Meeresschildkröte
  96   Ernst Blass
    
An Gladys
  95   Michael Buselmeier
    
Holzpuppe
  94   Heiner Müller
    
Traumwald
  93   Thomas Böhme
    
Neunundzwanzigster Februar
  92   Katrine von Hutten
    
Beschreibung
  91   Dieter M. Gräf
    
Nach Mattheuer
  90   Arnfrid Astel
    
Leda
  89   Michael Krüger
    
Im Winter
  88   Ralph Dutli
    
Salzzauber
  87   Christiane Heidrich
    
Today I am functional (1)
  86   Wulf Kirsten
    
die rückkehr der wölfe
  85   Maren Kames
    
Im Siel
  84   Gregor Laschen
    
Drüben, im ›Winkel von Hardt‹
  83   Christoph Wenzel
    
ländlich, der mundraum
  82   Werner Lutz
    
Ja, bin unterwegs
  81   Kenah Cusanit
    
Gottesgedicht, unberuhigt
  80   Sascha Kokot
    
sobald die Stadt ...
  79   Ror Wolf
    
Dritter unvollständiger Versuch
  78   Horst Bingel
    
Felsenmeer
  77   Tristan Marquardt
    
nachts, ich laufe nach hause
  76   Harald Gerlach
    
Gründe, linkselbisch
  75   Birgit Kreipe
    
schienen stillgelegt
  74   Hanns Cibulka
    
Böhmischer Rebstock
  73   Karin Fellner
    
Eine Zeitfalte weiter
  72   David Krause
    
Wolken
  71   Jürgen Nendza
    
An manchen Tagen
  70   Harry Oberländer
    
kurz vor der revolution
  69   Mara-Daria Cojocaru
    
Ich bin
  68   Hilde Domin
    
Antwort
  67   Elisabeth Borchers
    
Zukünftiges
  66   Günter Herburger
    
Großjean, der aus einem ...
  65   Georg Leß
    
Kondorlied
  64   Thomas Kling
    
Tessiner beinhaus. wandbild
  63   Rainer René Mueller
    
Da ist es
  62   Ernst S. Steffen
    
Man sagt
  61   Henning Ziebritzki
    
Elster
  60   Jürgen Brôcan
    
Fremde ohne Souvenir
  59   Carolin Callies
    
wackersteine im wams
  58   Friedrich Ani
    
Versehrte Verse
  57   Elke Erb
    
»Ursprüngliche Akkumulation«
  56   Uwe Kolbe
    
Heidelberg, den 14ten August
  55   Sonja vom Brocke
    
Kunde
  54   Sünje Lewejohann
    
krähen
  53   Jan Wagner
    
im brunnen
  52   Susanne Stephan
    
Frontier
  51   Silke Scheuermann
    
Uraniafalter
  50   Mirko Bonné
    
Der Zischelwind
  49   Judith Zander
    
fürs erste leb im später
  48   Andreas Rasp
    
diese steine hier
  47   Marcus Roloff
    
hl. grab, eingang wahlkapelle
  46   Clemens J. Setz
    
Motte
  45   Martina Weber
    
jetzt, da die letzten bilder verschwunden sind
  44   Paul Zech
    
Der Nebel fällt
  43   Klaus Merz
    
Expedition
  42   Christian Lehnert
    
Du bist die Aussicht  ...
  41   Àxel Sanjosé
    
Zum Abschied hell ...
  40   Ulrike Draesner
    
feld elternlos
  39   Ursula Krechel
    
Weiß wie
  38   Heinrich Detering
    
Kilchberg
  37   Hendrik Rost
    
Requiem
  36   Walle Sayer
    
Vom Flüchtigschönen
  35   Nico Bleutge
    
grauwacke
  34   Rolf Haufs
    
Kinderjuni
  33   Thomas Rosenlöcher
    
Die Hoffnungsstufen
  32   Jan Koneffke
    
Dem toten Kind in einer Oktobernacht
  31   Arne Rautenberg
    
drei amseln
  30   Oskar Loerke
    
Ans Meer
  29   Jean Krier
    
„Alles ist in den besten Anfängen“
  28   Werner Laubscher
    
Winterreise. Wintersprache
  27   Wolfgang Schlenker
    
stichwort minimieren
  26   Christoph Meckel
    
Kind
  25   Günter Grass
    
Die Vorzüge der Windhühner
  24   Jürgen Theobaldy
    
Blume mit Geruch
  23   Ann Cotten
    
Rosa Meinung
  22   Horst Samson
    
Edoms Nacht
  21   Christian Steinbacher
    
Belegte Brotzeit
  20   Bianca Döring
    
Allein
  19   Simone Kornappel
    
muxmäuschen
  18   Jörg Burkhard
    
in gauguins alten basketballschuhen
  17   Konstantin Ames
    
dreißig lenze
  16   Wilhelm Lehmann
    
Auf sommerlichem Friedhof
  15   Joachim Zünder
    
Die Finnische Bibliothek
  14   Kathrin Schmidt
    
waage, vorm wasser
verchromt, gestählt
  13   Marion Poschmann
    
latenter Ort
  12   Rainer Malkowski
    
Bist du das noch?
  11   Gerhard Falkner
    
die roten schuhe
  10   Wolfgang Hilbig
    
Pro domo et mundo
  9   Katharina Schultens
    
die möglichkeit einer verwechslung ...
  8   Michael Donhauser
     Lass rauschen Lied ...
  7   Ulrich Zieger
     an den vater von sem,
  6   Elisabeth Langgässer
     Erster Adventssonntag
  5   Levin Westermann
     wie ein fresko
  4   Dirk von Petersdorff
     Raucherecke
  3   Ulrich Koch
     Danke
  2   Steffen Popp
     Fenster zur Weltnacht
  1   Adolf Endler
     Dies Sirren
     
Neue Folge