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Thomas Rosenlöcher
Die Hoffnungsstufen

Daß ich den Birnbaum vorm Haus wieder sehe.
Ich meine den, den ich jeden Tag sehe.

Daß mich eine Frau im Dunklen entkleidet
und mit silbernen Fingern was Finstres vorfindet.

Daß wir, im Schlaf zu Staub entrückt,
des Birnbaums Blüten donnern hören.


  Der gelbe Akrobat – Neue Folge 33

Michael Braun
Der Engel der Beharrlichkeit



Thomas Rosenlöcher ist ein Engel der Beharrlichkeit. Und auch wenn er 2007 in seinem Band „Das Flocken­karussell“ treu­herzig behauptet hat: „Engel hab ich mir abge­wöhnt“ – so sind die geflü­gelten Himmels­boten doch nie von seiner Seite ge­wichen. Und sie begleiten ihn noch immer an den Mittel­punkt der Welt, der am süd­öst­lichen Rand von Dresden zu finden ist, in Kleinz­schach­witz, in der Wilhelm-Weitling-Straße 4. Dort stand in einem verwilderten Garten viele Jahre lang, bis Mitte der 1990er Jahre, sein poe­tischer Lebens­begleiter, Hoff­nungs­träger, und ver­wil­derter Talis­man: der knorrige, immer schiefer sich neigende Apfel­baum, der ihm den Weg in die Poesie zeigte. Und in diesem Garten voll­zog sich jene glück­liche Selbst­begeg­nung, die er in seinem berühm­ten Gedicht „Der Garten“ schil­dert: Der Apfel­baum umgibt hier den in Gedan­ken ver­sunkenen Dichter „mit viel­fachem Grün“, um ihn herum wandern „schöne Schat­ten“ und „Blütten­blätter fallen auf den Tisch / und schmel­zen, Schnee!“ Und das ist dem 1947 gebo­renen Spät­romantiker Thomas Rosen­löcher bei all seinen poetischen Meta­morphosen immer ge­blieben: die „Glücks­bangig­keit beim Anblick eines blühenden Baumes oder von Schnee verwil­derten Gartens“. Blüten und Schnee sind für ihn die Kraft­stationen äs­the­tischer Erfah­rung geblieben, die immer wieder „Transzen­denz­schauer“ er­mög­lichen.
  In seinem Gedicht „Der Engel der Beharrlichkeit“, nachzulesen in seinem 1988 publi­zierten Band „Schnee­bier“, setzt Rosen­löcher gegen die Dik­tatur der Hori­zontale, der plane­ta­risch-flächen­decken­den Auto­bahn-Gesell­schaft, die Uto­pie der Vertikale – den Flug der Poesie in Himmels-Höhen. Dabei nutzt Rosen­löcher das Bild der Himmels­leiter, das im 6. Jahr­hundert n. Chr. von dem Kirchen­vater Jo­hannes Climacus erfun­den wurde, dem Verfasser der „scala paradisi“. Die Inge­nieure des auf Effi­zienz getrimm­ten Indus­trie­sys­tems werden im Gedicht mit einem un­schein­baren Engel konfron­tiert, der Himmels­leitern feil­bietet. Das Gedicht formuliert ein Miss­trauens­votum gegen die Planungs-Wut der „Systeme“ und setzt auf die freie Imagination der Poesie: „Himmelsleitern, licht­geknüpfte!“
  In dem 2007 erstmals publizierten Gedicht „Die Hoffnungsstufen“ steigt Ro­sen­löchers lyrisches Ich die Stufen der Leiter aber wieder hinab – ins Finstere. Zu­nächst ist da der Wunsch, die poeti­sche Wahr­neh­mung und die roman­tische Utopie des blühenden Baums wieder­zu­ge­winnen. Hoff­nung hat indes für den skeptisch gewor­denen Spät­roman­tiker Rosen­löcher als philo­sophi­sches „Prinzip“ ausgedient. Daher führen die Stufen hier hinab in ein immer tieferes Dunkel. Das Bild von der Entblößung und Ent­kleidung im Dunkeln bleibt ambivalent: die „sil­bernen Finger“ der Frau, romantischer Topos und Bild der Ver­lockung zugleich, greifen ins Finstere. Und selbst wenn in den Schluss­ver­sen wieder die vertrauten Blüten des Birn­baums aufgerufen werden – so scheint sich diese Inten­sitäts­empfin­dung von den „don­nernden Blü­ten“ schon im Toten­reich zu vollziehen, ist doch das hier apo­stro­phierte Kollektiv­subjekt „zu Staub entrückt“. Die „Trans­zendenz­schauer“ der roman­tischen Welt­aneig­nung – hier sind sie zu einer escha­tolo­gischen Erfah­rung geworden.

Thomas Rosenlöcher, geboren 1947 in Dresden, gehörte zu den Dich­tern, „die eigen­mäch­tig blieben in der DDR“ (Jürgen Serke). Er studierte von 1976 bis 1979 am „Lite­ratur­institut Johannes R. Becher“ in Leipzig und wurde 1983 nach seinem Erst­ling „Ich lag im Garten bei Kleinz­schach­witz“ als „Wieder­gänger Eichen­dorffs“ (Alexander von Bormann) entdeckt. Heute lebt er in Beerwalde im Erz­gebirge und in Dresden. Das vor­lie­gende Ge­dicht ist seinem Band „Das Flocken­karus­sell“ (Insel Verlag, Frank­furt a.M. / Leipzig 2007) ent­nommen.
  Wir danken Autor und Verlag für die Wieder­gabe des Gedichts im Kontext des Kom­mentars.


Band 1
 
  Band 3  
M. Braun & M. Buselmeier
Der gelbe Akrobat (1. Band)
100 deutsche Gedichte der Gegenwart,
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  M. Braun & M. Buselmeier
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216 Seiten, 18.80 Euro
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01.09.2013



 

Gedichte, kommentiert
von Michael Braun und
Michael Buselmeier

    Thomas Rosenlöcher
Liste
Gefördert vom
Deutschen Literaturfonds



  102   Brigitte Oleschinski
    
wie die Wörter auftauen
  101   Franz Josef Czernin
    
dunkel ortlos, hergezogen
  100   Johann P. Tammen
    
Ein Poet nimmt Platz
  99   Joseph Kopf
    
Ich liebe Schritte, die ins Leere gehn
  98   Oleg Jurjew
    
Zum Andenken an den Kater Nero
  97   Sandra Burkhardt
    
Die Bahn einer Meeresschildkröte
  96   Ernst Blass
    
An Gladys
  95   Michael Buselmeier
    
Holzpuppe
  94   Heiner Müller
    
Traumwald
  93   Thomas Böhme
    
Neunundzwanzigster Februar
  92   Katrine von Hutten
    
Beschreibung
  91   Dieter M. Gräf
    
Nach Mattheuer
  90   Arnfrid Astel
    
Leda
  89   Michael Krüger
    
Im Winter
  88   Ralph Dutli
    
Salzzauber
  87   Christiane Heidrich
    
Today I am functional (1)
  86   Wulf Kirsten
    
die rückkehr der wölfe
  85   Maren Kames
    
Im Siel
  84   Gregor Laschen
    
Drüben, im ›Winkel von Hardt‹
  83   Christoph Wenzel
    
ländlich, der mundraum
  82   Werner Lutz
    
Ja, bin unterwegs
  81   Kenah Cusanit
    
Gottesgedicht, unberuhigt
  80   Sascha Kokot
    
sobald die Stadt ...
  79   Ror Wolf
    
Dritter unvollständiger Versuch
  78   Horst Bingel
    
Felsenmeer
  77   Tristan Marquardt
    
nachts, ich laufe nach hause
  76   Harald Gerlach
    
Gründe, linkselbisch
  75   Birgit Kreipe
    
schienen stillgelegt
  74   Hanns Cibulka
    
Böhmischer Rebstock
  73   Karin Fellner
    
Eine Zeitfalte weiter
  72   David Krause
    
Wolken
  71   Jürgen Nendza
    
An manchen Tagen
  70   Harry Oberländer
    
kurz vor der revolution
  69   Mara-Daria Cojocaru
    
Ich bin
  68   Hilde Domin
    
Antwort
  67   Elisabeth Borchers
    
Zukünftiges
  66   Günter Herburger
    
Großjean, der aus einem ...
  65   Georg Leß
    
Kondorlied
  64   Thomas Kling
    
Tessiner beinhaus. wandbild
  63   Rainer René Mueller
    
Da ist es
  62   Ernst S. Steffen
    
Man sagt
  61   Henning Ziebritzki
    
Elster
  60   Jürgen Brôcan
    
Fremde ohne Souvenir
  59   Carolin Callies
    
wackersteine im wams
  58   Friedrich Ani
    
Versehrte Verse
  57   Elke Erb
    
»Ursprüngliche Akkumulation«
  56   Uwe Kolbe
    
Heidelberg, den 14ten August
  55   Sonja vom Brocke
    
Kunde
  54   Sünje Lewejohann
    
krähen
  53   Jan Wagner
    
im brunnen
  52   Susanne Stephan
    
Frontier
  51   Silke Scheuermann
    
Uraniafalter
  50   Mirko Bonné
    
Der Zischelwind
  49   Judith Zander
    
fürs erste leb im später
  48   Andreas Rasp
    
diese steine hier
  47   Marcus Roloff
    
hl. grab, eingang wahlkapelle
  46   Clemens J. Setz
    
Motte
  45   Martina Weber
    
jetzt, da die letzten bilder verschwunden sind
  44   Paul Zech
    
Der Nebel fällt
  43   Klaus Merz
    
Expedition
  42   Christian Lehnert
    
Du bist die Aussicht  ...
  41   Àxel Sanjosé
    
Zum Abschied hell ...
  40   Ulrike Draesner
    
feld elternlos
  39   Ursula Krechel
    
Weiß wie
  38   Heinrich Detering
    
Kilchberg
  37   Hendrik Rost
    
Requiem
  36   Walle Sayer
    
Vom Flüchtigschönen
  35   Nico Bleutge
    
grauwacke
  34   Rolf Haufs
    
Kinderjuni
  33   Thomas Rosenlöcher
    
Die Hoffnungsstufen
  32   Jan Koneffke
    
Dem toten Kind in einer Oktobernacht
  31   Arne Rautenberg
    
drei amseln
  30   Oskar Loerke
    
Ans Meer
  29   Jean Krier
    
„Alles ist in den besten Anfängen“
  28   Werner Laubscher
    
Winterreise. Wintersprache
  27   Wolfgang Schlenker
    
stichwort minimieren
  26   Christoph Meckel
    
Kind
  25   Günter Grass
    
Die Vorzüge der Windhühner
  24   Jürgen Theobaldy
    
Blume mit Geruch
  23   Ann Cotten
    
Rosa Meinung
  22   Horst Samson
    
Edoms Nacht
  21   Christian Steinbacher
    
Belegte Brotzeit
  20   Bianca Döring
    
Allein
  19   Simone Kornappel
    
muxmäuschen
  18   Jörg Burkhard
    
in gauguins alten basketballschuhen
  17   Konstantin Ames
    
dreißig lenze
  16   Wilhelm Lehmann
    
Auf sommerlichem Friedhof
  15   Joachim Zünder
    
Die Finnische Bibliothek
  14   Kathrin Schmidt
    
waage, vorm wasser
verchromt, gestählt
  13   Marion Poschmann
    
latenter Ort
  12   Rainer Malkowski
    
Bist du das noch?
  11   Gerhard Falkner
    
die roten schuhe
  10   Wolfgang Hilbig
    
Pro domo et mundo
  9   Katharina Schultens
    
die möglichkeit einer verwechslung ...
  8   Michael Donhauser
     Lass rauschen Lied ...
  7   Ulrich Zieger
     an den vater von sem,
  6   Elisabeth Langgässer
     Erster Adventssonntag
  5   Levin Westermann
     wie ein fresko
  4   Dirk von Petersdorff
     Raucherecke
  3   Ulrich Koch
     Danke
  2   Steffen Popp
     Fenster zur Weltnacht
  1   Adolf Endler
     Dies Sirren
     
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