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Thomas Kling
Tessiner beinhaus. wandbild



  Der gelbe Akrobat – Neue Folge 64

Michael Buselmeier
Im Sprachhaus. Ein Totentanz



Am Lago Maggiore, in Ascona und Umgebung, hat Thomas Kling als Kind und Jugendlicher in den 60er und 70er Jahren mit seiner Mutter und den Groß­eltern regelmäßig die Oster­ferien zuge­bracht. Man unter­nahm Familien­aus­flüge in die zer­klüf­teten Seiten­täler mit ihren rei­ßenden Ge­birgs­bächen, kam an kargen Ge­höften vor­über. Dabei könnten die Klings auch auf ein Tessiner Bein­haus mit einem Wand­bild aus dem 17. Jahr­hun­dert gestoßen sein, das den Dichter viele Jahre später zu einem seiner „Gemälde­gedichte“ inspi­rierte. Ge­druckt erschien es zuerst 1999 in dem Band „Fernhandel“.
  Mit diesem Buch sei Klings Lyrik „kommuni­kativer und stoff­lich noch um­fas­sender“ geworden, ohne an sprachlicher Eigen­art und Schärfe zu ver­lieren, urteilt der Dichter und Freund Norbert Hummelt in einem bril­lanten Essay. Das reine Sprach­expe­riment weicht zurück, (Kultur-)Geschichte und hu­manis­tische Bil­dungs­wel­ten treten stärker hervor. Das anarchisch auf­gesprengte Druck­bild und die orthographischen Regel­ver­letzungen sind fast ver­schwunden, während die über­lieferte Ord­nungs­form der Strophe und sogar das jambische Metrum wieder Beachtung finden.
  Zunächst war bei diesem mittel­rheinischen „Sprach-Instal­lateur“ alles auf eine Dekon­struktion des gegen­wär­tigen Deutsch in seiner unter­stellten „Kaputt­heit“ angelegt. Kling störte das Laut­bild, er schabte an ein­zelnen Wörtern herum, erhöhte die Zahl der Kon­sonanten, indem er Vokale heraus­schnitt, Endun­gen wegfräste und die phone­tische Schreib­weise bevorzugte. Mit solchen Sprach­ver­letzungen hat er die deutsche Lyrik gegen Ende des 20. Jahr­hun­derts heftiger als irgendein anderer auf­gemischt.
  Nicht nur das Sprachhaus – die ganze Welt gleicht nach barocker Vor­stellung einem Beinhaus, einem tristen Ort, an dem Krieg und Unter­gang vor­herrschen und alle dem Tod ver­fallen sind. Klings Tessiner Beinhaus hat man sich als über­dachten Raum vor­zustel­len, der zur Auf­bewahrung von mensch­lichen Gebeinen bestimmt ist. Mancher­orts hat so eine Anlage zwei Ebenen, die obere dient zur Auf­bah­rung des Toten und als Kapelle, die untere als Bein­keller. In seinem Gemälde­gedicht spricht Thomas Kling nicht von dem Ossua­rium, den ange­häuften Knochen und Schädeln, die frischen Bestattungen Platz machen mussten, son­dern nur von dem Vanitas-Bild im Kapellen­teil, das allemal ausreicht, ein Memento Mori anzu­stimmen.
  Der barocke Tod tritt hier betont lässig auf; mit seiner Sense gleicht er einem Zitat. (In einem anderen Gemälde­gedicht Klings kommt er be­zie­hungs­voll als Ker­zen­löscher daher.) Er gilt als „halber­ledigter“ Kava­lier, modisch-ele­gant gekleidet, mit ge­zierter Rede („hübsch­lich angezogen“, „feines stöffchen“). Er trägt eine Allonge-Perücke, die seinen Oberkörper bedeckt, während das Becken grotesk bloßliegt und die Beine, die sich um einen „flotten tänzel­schritt“ bemühen, „nichts als nackte knochen“ sind, wie man das von Toten­tänzen her so kennt – ein „halber mann“ also, doch keines­wegs un­gefähr­lich. „dem tut kein fuß und schwanz mehr weh“ heißt es flapsig, mit entspannter Ironie. Über ein individuelles Gesicht verfügt dieser Knochen­mann wohl kaum, Schmerz und Melan­cho­lie sind ihm schwer zuzu­trauen. Die etwas ab­gesetzte Schluss­zeile: „melan­cholie ist schon im blick; im blick zurück“ könnte vielleicht eher auf den Autor selbst oder auch den Leser zutref­fen, die sich beide gegen den Tod, wenn auch aussichts­los, wehren. „Was sag ich?“ befindet Andreas Gryphius. „Wir vergehn wie Rauch von starken Winden.“


Thomas Kling wurde 1957 in Bingen geboren, er wuchs in Düsseldorf auf, lebte zuletzt auf der Insel Hombroich bei Neuss und starb im April 2005. Das vorgestellte Gedicht stammt aus dem Band „Schädelmagie. Ausgewählte Gedichte“, Stuttgart 2008. Herausgegeben von Norbert Hummelt.

Druckansicht  Zur Druckansicht - Schwarzweiß-Ansicht     01.04.2016




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