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Paul Zech
DER NEBEL fällt. Die Welt wird wieder klein.
Die Wälder rücken auch zusammen.
Bald wird um uns nur Dunkel sein
der Raum, woher wir alle stammen.

Herzu tritt auch das müdgejagte Reh,
es hat mich angsthaft angesehen.
Sein schneller Atem flockt so weiß wie Schnee,
kein Leid soll ihm geschehen.

Baum, Tier und ich:
Wir drei sind eins, dreieinig Du,
als wären wir seit Ewigkeiten schon

verbunden und verwoben.
Und nichts ist Unten mehr und nichts ist Oben,
gerundet deckt der Raum uns zu.


  Der gelbe Akrobat – Neue Folge 44

Michael Buselmeier
In der Wildnis



Im Jahr 1960, als blutjunger Schauspieler, habe ich an der Uraufführung zweier „Indio­spiele“ des damals nahezu völlig ver­gessenen Dichters Paul Zech mit­gewirkt. Es war im Jahr der großen Expres­sionis­mus-Ausstellung in Mar­bach, mit der die Wieder­ent­deckung einer lite­rarischen Bewegung einge­läutet wurde, in welcher der vitale Zech, vor allem als Lyriker, eine nicht unwesent­liche Rolle gespielt hat. Auch in den legendären Lyrik-Antho­logien „Der Kondor“ (1912) und „Mensch­heits­dämme­rung“ (1919) ist er gut ver­treten.
  Seine höchst abenteuer­liche Lebens­geschichte, die mit seinem Tod in Buenos Aires 1946 ihr Ende fand, hat Zech selbst mani­puliert und immer wieder um fan­tas­tische Varianten bereichert. Er war erwie­sener­maßen ein Hochstapler („Dr. Zech“ hatte nur die Volks­schule absol­viert), Plagiator und Bücher­dieb großen Stils. Doch er war auch, was oft übersehen wird, einer der wort­gewal­tigsten und flei­ßigsten Dichter seiner Zeit, und zwar nicht nur mit seinem expres­sionis­tischen Früh­werk, sondern auch mit seinen späteren Texten, die zum Teil im argen­tini­schen Exil ent­standen sind.
  Auch wenn Zech 1918 für seine Lyrik den Kleist-Preis erhielt, war er mit seinem umfang­reichen Oeuvre, beste­hend aus Gedich­ten, Erzäh­lungen, Roma­nen, india­nischen Legenden, Reise­berichten und Theater­stücken nie wirk­lich er­folg­reich und ständig zu Brot­arbeiten genötigt. Seine letzten Gedicht­bän­de waren prak­tisch unver­käuf­lich. Erst seine sehr freien Über­tragungen (besser: Nach­dich­tungen) der Poeme Villons und Rimbauds haben ihn postum – auch durch Klaus Kinskis Rezitations­wut – berühmt gemacht. Dabei stammen gern zitierte Verse wie „Ich bin so wild nach deinem Erd­beer­mund, / ich schrie mir schon die Lungen wund“ gar nicht von Villon, sondern von Zech, der sie dem spät­mittel­alter­lichen Vaganten unter­gescho­ben hat (was auch für Zechs hohe dichte­rische Fähig­keiten spricht).
  Seine Gedichte haben etwas Wildes, Genialisches, Ekstatisch-Visio­näres. Eine unheimliche, aber auch Trost spen­dende Natur behauptet sich als Gegenbild zur mo­dernen Stadt und zur Arbeitswelt. Besonders der Wald, auch der einzelne Baum und das ge­schun­dene Tier, etwa ein blindes Gruben­pferd, werden magisch überhöht und mythisch aufgeladen, fast wie in den Märchen der Brüder Grimm, bei Tieck oder Eichen­dorff. Die Wälder sind häufig „schwarz“ (wie bei Brecht), auch die Großstadt erweist sich als bedroh­liche „Wildnis“. „Goldner Wald wird schwarzes Geisterhaus, / Rabenflügel fahren ein und aus.“
  Im Exil hat Zech dann die „Bäume am Rio de la Plata“ besungen, „die Riesen­bäume voller Scharlach-Schaum“. Ein ganzer Gedich­tband spricht nur über Bäume, über deren Schönheit und „orgelhaftes Brausen“: „Nicht schwei­gen! Nein, lass deine Stimme / aufwachsen zu dem hohen Baum, / auf dass er immer oben schwimme / mit einem laubgewaltigen Raum.“
  Paul Zech konnte in Argentinien nie richtig Fuß fassen. Er fühlte sich als Frem­der und dachte ständig an eine Rück­kehr nach Deutsch­land. In dem vor­gestellten Gedicht, das zwischen 1934 und 1937 ent­standen ist, „rücken“ die exoti­schen Wälder Süd­amerikas und die der west­preußi­schen Heimat „zu­sammen“, und es entsteht ein enger, magisch-dunkler, ursprüng­licher Ver­brüde­rungs­raum, aus dem „wir alle stammen“ und in dem alle (Bäume, Tiere und Menschen) wieder zu „eins“ werden und versinken: „Immer ist Verwan­delung in mir, / Erdenkrume, Blumenblatt und Tier.“ Obwohl Zech ein kühner Erneuerer der Sprache war, hat er zeit­lebens auf das Sonett vertraut, dessen Reime und Metren er meisterhaft be­herrschte. Vermutlich brauchte er diese von George und Rilke über­nommene Form als bändi­gendes Kor­rektiv seiner Zügel­losig­keit.

Paul Zech wurde 1881 in Briesen (Westpreußen) geboren. Er lebte einige Zeit in Elberfeld, ab 1912 dann in Berlin. Emigrierte 1933 nach Buenos Aires, vor allem weil ihm ein Strafprozess wegen Bücherdiebstahl drohte. Starb dort 1946. Das vorgestellte Gedicht stammt aus: Vom schwarzen Revier zur neuen Welt. Gesammelte Gedichte, hrsg. von Henry A. Smith, Carl Hanser Verlag, München 1983.

Wir danken dem Verlag für die Wiedergabe im Rahmen dieses Gedicht­kom­men­tars.



Band 1
 
  Band 3  
M. Braun & M. Buselmeier
Der gelbe Akrobat (1. Band)
100 deutsche Gedichte der Gegenwart,
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Taschenbuch
360 Seiten, 18.80 Euro
poetenladen Verlag 2011

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  M. Braun & M. Buselmeier
Der gelbe Akrobat (3. Band)
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Druckansicht  Zur Druckansicht - Schwarzweiß-Ansicht     01.08.2014



 

 

 

Gedichte, kommentiert
von Michael Braun und
Michael Buselmeier

    Paul Zech
Liste
Gefördert vom
Deutschen Literaturfonds



  102   Brigitte Oleschinski
    
wie die Wörter auftauen
  101   Franz Josef Czernin
    
dunkel ortlos, hergezogen
  100   Johann P. Tammen
    
Ein Poet nimmt Platz
  99   Joseph Kopf
    
Ich liebe Schritte, die ins Leere gehn
  98   Oleg Jurjew
    
Zum Andenken an den Kater Nero
  97   Sandra Burkhardt
    
Die Bahn einer Meeresschildkröte
  96   Ernst Blass
    
An Gladys
  95   Michael Buselmeier
    
Holzpuppe
  94   Heiner Müller
    
Traumwald
  93   Thomas Böhme
    
Neunundzwanzigster Februar
  92   Katrine von Hutten
    
Beschreibung
  91   Dieter M. Gräf
    
Nach Mattheuer
  90   Arnfrid Astel
    
Leda
  89   Michael Krüger
    
Im Winter
  88   Ralph Dutli
    
Salzzauber
  87   Christiane Heidrich
    
Today I am functional (1)
  86   Wulf Kirsten
    
die rückkehr der wölfe
  85   Maren Kames
    
Im Siel
  84   Gregor Laschen
    
Drüben, im ›Winkel von Hardt‹
  83   Christoph Wenzel
    
ländlich, der mundraum
  82   Werner Lutz
    
Ja, bin unterwegs
  81   Kenah Cusanit
    
Gottesgedicht, unberuhigt
  80   Sascha Kokot
    
sobald die Stadt ...
  79   Ror Wolf
    
Dritter unvollständiger Versuch
  78   Horst Bingel
    
Felsenmeer
  77   Tristan Marquardt
    
nachts, ich laufe nach hause
  76   Harald Gerlach
    
Gründe, linkselbisch
  75   Birgit Kreipe
    
schienen stillgelegt
  74   Hanns Cibulka
    
Böhmischer Rebstock
  73   Karin Fellner
    
Eine Zeitfalte weiter
  72   David Krause
    
Wolken
  71   Jürgen Nendza
    
An manchen Tagen
  70   Harry Oberländer
    
kurz vor der revolution
  69   Mara-Daria Cojocaru
    
Ich bin
  68   Hilde Domin
    
Antwort
  67   Elisabeth Borchers
    
Zukünftiges
  66   Günter Herburger
    
Großjean, der aus einem ...
  65   Georg Leß
    
Kondorlied
  64   Thomas Kling
    
Tessiner beinhaus. wandbild
  63   Rainer René Mueller
    
Da ist es
  62   Ernst S. Steffen
    
Man sagt
  61   Henning Ziebritzki
    
Elster
  60   Jürgen Brôcan
    
Fremde ohne Souvenir
  59   Carolin Callies
    
wackersteine im wams
  58   Friedrich Ani
    
Versehrte Verse
  57   Elke Erb
    
»Ursprüngliche Akkumulation«
  56   Uwe Kolbe
    
Heidelberg, den 14ten August
  55   Sonja vom Brocke
    
Kunde
  54   Sünje Lewejohann
    
krähen
  53   Jan Wagner
    
im brunnen
  52   Susanne Stephan
    
Frontier
  51   Silke Scheuermann
    
Uraniafalter
  50   Mirko Bonné
    
Der Zischelwind
  49   Judith Zander
    
fürs erste leb im später
  48   Andreas Rasp
    
diese steine hier
  47   Marcus Roloff
    
hl. grab, eingang wahlkapelle
  46   Clemens J. Setz
    
Motte
  45   Martina Weber
    
jetzt, da die letzten bilder verschwunden sind
  44   Paul Zech
    
Der Nebel fällt
  43   Klaus Merz
    
Expedition
  42   Christian Lehnert
    
Du bist die Aussicht  ...
  41   Àxel Sanjosé
    
Zum Abschied hell ...
  40   Ulrike Draesner
    
feld elternlos
  39   Ursula Krechel
    
Weiß wie
  38   Heinrich Detering
    
Kilchberg
  37   Hendrik Rost
    
Requiem
  36   Walle Sayer
    
Vom Flüchtigschönen
  35   Nico Bleutge
    
grauwacke
  34   Rolf Haufs
    
Kinderjuni
  33   Thomas Rosenlöcher
    
Die Hoffnungsstufen
  32   Jan Koneffke
    
Dem toten Kind in einer Oktobernacht
  31   Arne Rautenberg
    
drei amseln
  30   Oskar Loerke
    
Ans Meer
  29   Jean Krier
    
„Alles ist in den besten Anfängen“
  28   Werner Laubscher
    
Winterreise. Wintersprache
  27   Wolfgang Schlenker
    
stichwort minimieren
  26   Christoph Meckel
    
Kind
  25   Günter Grass
    
Die Vorzüge der Windhühner
  24   Jürgen Theobaldy
    
Blume mit Geruch
  23   Ann Cotten
    
Rosa Meinung
  22   Horst Samson
    
Edoms Nacht
  21   Christian Steinbacher
    
Belegte Brotzeit
  20   Bianca Döring
    
Allein
  19   Simone Kornappel
    
muxmäuschen
  18   Jörg Burkhard
    
in gauguins alten basketballschuhen
  17   Konstantin Ames
    
dreißig lenze
  16   Wilhelm Lehmann
    
Auf sommerlichem Friedhof
  15   Joachim Zünder
    
Die Finnische Bibliothek
  14   Kathrin Schmidt
    
waage, vorm wasser
verchromt, gestählt
  13   Marion Poschmann
    
latenter Ort
  12   Rainer Malkowski
    
Bist du das noch?
  11   Gerhard Falkner
    
die roten schuhe
  10   Wolfgang Hilbig
    
Pro domo et mundo
  9   Katharina Schultens
    
die möglichkeit einer verwechslung ...
  8   Michael Donhauser
     Lass rauschen Lied ...
  7   Ulrich Zieger
     an den vater von sem,
  6   Elisabeth Langgässer
     Erster Adventssonntag
  5   Levin Westermann
     wie ein fresko
  4   Dirk von Petersdorff
     Raucherecke
  3   Ulrich Koch
     Danke
  2   Steffen Popp
     Fenster zur Weltnacht
  1   Adolf Endler
     Dies Sirren
     
Neue Folge