Zuspruch
Jürg Halter
Ereignis, das kommen mag
Ereignis, das kommen mag
Wenn ich so sitze, so unversehrt kraftlos
die Hände aufgeräumt im nackten Schoss
wünsche ich mir, meine Brust bräche auf
und aus ihrer Tiefe würde ein lauteres Herz
in Gefolgschaft der anderen Organe steigen
um sich vor meinem müden Körper aufzureihen
ihm voller Zuversicht lächelnd zu salutieren
Dieses Gedicht sollte man ungelesen ausdrucken und ein leeres Blatt darauf legen, das man Zeile für Zeile nach unten verschiebt. Das wäre die beste Methode, um dem Bild, das in einem einzigen Satz entfaltet wird, Schritt für Schritt auf der Spur zu bleiben und die Überraschungen zu schmecken, die sich aus den nicht eingelösten Erwartungen ergeben.
Schon die Überschrift ist angenehm vage. „Ereignis, das kommen mag“ – welches denn? Und ist das rein faktisch gemeint oder fatalistisch, gleichgültig oder einfach nur als Möglichkeit? Oder drückt sich ein stilles Einverständnis darin aus, vielleicht sogar ein Herbeisehnen: Ja, doch, wäre schön? Wie auch immer, wir hoffen auf ein paar Wörter, die dieser Überschrift eine Kontur geben, ihren Sinn festlegen, während wir das Gedicht zu lesen beginnen.
Also: Einer, der Ich sagt, sitzt irgendwo, draußen oder drinnen, „unversehrt“ (also heil, aber einer Gefahr entronnen?), dazu „kraftlos“ (also erschöpft von Arbeit und Mühe oder einfach vom Leben?) / und zwar nackt (im menschlichen Urzustand, nicht bekleidet und verkleidet, sondern wie er ist, ungeschützt), und was bedeutet nun „die Hände aufgeräumt“? Locker zusammengelegt, friedlich? Oder: ordentlich, wie es sich gehört (und das klingt bedrohlich nach Erziehungsmaßnahmen)?
Und dann also der Wunsch (der zurückweist auf die Überschrift) und der Schock des unerwarteten Bildes, das sich über die nächsten Zeilen fortsetzt: Ein lautloses Krachen, die Brust teilt sich und nacheinander, als ruhten sie unverbunden im Körper und besäßen Ärmchen und Beinchen, klettern Herz, Lungenflügel, Nieren, Leber, Magen und was da sonst noch in uns wirkt und werkelt, aus dem klaffenden Rippentor, während das Ich ganz ruhig sitzen bleibt und schaut. Wie artige kleine Diener stellen sich die Organe in einer Reihe auf, um dem müden, kraftlosen Ich zu zeigen: Sieh, wie gesund wir sind, wie kräftig und fleißig und ganz zu deinen Diensten! Fasse Mut! Und dabei lächeln sie, als hätten sie Gesichter.
So plastisch und irreal ist diese Szene, als entstammte sie einem frühen Trickfilm. Aber dort wäre sie lächerlich, im besten Fall komisch, die Organe würden hampeln und piepsen und das staunende Ich rollte mit den Augen. Dem Text hingegen fehlt alles Lächerliche, ihn durchwirkt ein Licht, das von den Worten „lauter“ und „Zuversicht“ abstrahlt.
Ein lauteres Herz: Das klingt, im Zusammenhang des Gedichts, unprätentiös und ernst, als wären solche Ausdrücke immer noch möglich und in Gebrauch und keineswegs altmodisch, und als wären lautere Herzen fraglos vorhanden, einfach so, ohne Abstriche und Einschränkungen und das Sicherheitsnetz der Ironie. Das lautere Herz verströmt Trost und Zuversicht, nicht nur, was die somatische Seite der Befindlichkeit angeht, das störungsfreie Arbeiten aller Organe, das Gesundsein und die Vitalität, sondern auch, was die Seele betrifft.
Wo wäre der Leser, der den Wunsch, der zunächst so verstörend, beinahe abstoßend klingt, nicht teilte? Wer fühlte sich nicht zu Zeiten müde und kraftlos, vielleicht sogar immer, von Grund auf, existentiell oder in eine Arbeitsfron eingespannt, die zermürbt? Wer lächelte nicht ermutigt zurück angesichts der salutierenden fleißigen Gesellen und riefe sie wieder in sich hinein und drückte die Rippen zusammen, um mit erfrischtem Elan aufzustehen und Hand und Kopf anzuspannen bis zum nächsten Müdigkeitsanfall?
Jürg Halter ist jung. Hoffen wir, dass das Gedicht auch dem Leser, der es nicht mehr ist, die Brust öffnet.
Gisela Trahms
Zu Neuer Wort Schatz (5): Uljana Wolf
Zu Neuer Wort Schatz (3): Monika Rinck
Das Gedicht „Ereignis, das kommen mag“ und ein zugehöriger poetologischer Aufsatz sind zu finden in:
Zwischen den Zeilen
Eine Zeitschrift für Gedichte und ihre Poetik.
Hg.v. Urs Engeler
Heft 25/2006
www.engeler.de
Jürg Halters neuer Gedichtband (der das Gedicht nicht enthält):
Jürg Halter
Nichts, das mich hält
Ammann Verlag
Zürich 2008
Die Website des Autors: www.juerghalter.com
Jürg Halter als Kutti MC auf Myspace
Autorenfoto: Matthias Günter 2008