Geschrieben am 16. Dezember 2018 von für Crimemag, CrimeMag Dezember 2018

Charles Willeford zum Hundersten – Auszug aus „Seitenhieb“

seitenhieb9783895814044Dann hörte er überhaupt auf zu denken …

Das Leben ist eine Anstrengung, die einer besseren Sache würdig wäre. Karl Kraus

1

Detective Sergeant Hoke Moseley vom Miami Police Department öffnete die Tür seines Hauses in Green Lakes und sah nach links und nach rechts. Dann huschte er mit nacktem Oberkörper und nackten Füßen, bekleidet mit schlabbrigen weißen Boxershorts, hinaus und hob den Miami Herald vom Rasen auf. Um sechs Uhr morgens gab es eigentlich keinen Grund für diese Schamhaftigkeit. Seine Nachbarn waren noch nicht auf, und der Himmel im Osten nahm eben erst einen perlmuttgrauen Schimmer an.
  Die Zeitung wurde gewöhnlich um halb sechs in der Frühe von einem wütenden Puertoricaner in einem weißen Toyota zu- gestellt, der sie, ohne zu zielen, aus dem fahrenden Auto warf und nie die gleiche Stelle auf dem Rasen traf. Der Fahrer war immer noch wütend, dachte Hoke morgens, wenn er hinter der Fliegentür stand und auf die Zeitung wartete, weil er die fran- kierte, an sich selbst adressierte Weihnachtskarte des Zeitungs- boten zurückgeschickt hatte, ohne einen Fünfer oder einen Scheck als Trinkgeld beizulegen.
  In der Küche zog Hoke die glatte durchsichtige Hülle von der Zeitung ab, knüllte sie zu einer Kugel zusammen und warf sie in die überquellende Einkaufstüte, die als Müllbehälter diente. Er las den ersten Absatz sämtlicher Meldungen auf der Titelseite. Ein schiitischer Flugzeugentführer hatte im Libanon eine weitere amerikanische Geisel getötet. Der neue Fahrpreis für die Metrorail würde (vielleicht) einen Vierteldollar, einen halben Dollar oder einen ganzen Dollar betragen, aber das neueste Fahrpreissystem würde wahrscheinlich davon abhängen, an welcher Station der Fahrgast einstieg. Einem achtzehnjährigen Haitianer, der kürzlich seinen Abschluß an der Miami Norland School gemacht hatte, war es auf wundersame Weise gelungen, einen Platz an der US Air Force Academy zu ergattern, und der Kongreßabgeordnete, der dafür verantwortlich war, hatte gerade herausgefunden, daß der Junge ein illegaler Einwanderer war, der im Internierungslager in Krome auf seine Abschiebung wartete. Diese Meldung erinnerte Hoke an den geschmacklosen Witz, den Commander Bill Henderson ihm gestern in der Cafeteria des Departments erzählt hatte.
  »Woher weißt du, daß ein Haitianer in deinem Garten war?«
  »Woher denn?«
  »Dein Mangobaum ist kahlgefressen, und dein Hund hat Aids.«
  Hoke hatte nicht gelacht. »Das haut nicht hin, Bill.«
  »Wieso nicht? Ich find’s komisch.«
  »Nein, es haut nicht hin, weil nicht jeder einen Mangobaum im Garten hat und weil nicht jeder Haitianer Aids hat.«
  »Aber die meisten.«
  »Nein. Ich habe keinen Mangobaum und du auch nicht.«
  »Ich meine Aids. Die meisten Haitianer haben Aids.«
  »Auch nicht. Ich glaube, die Zahl liegt bei weniger als einem halben Prozent.«
  »Leck mich am Arsch, Hoke.« Henderson war vom Tisch aufgestanden und hatte die Cafeteria verlassen, ohne seinen Kaffee auszutrinken.
  Hokes Reaktion auf Hendersons lausigen Humor war ein weiteres Signal gewesen, aber Hoke hatte es nicht bemerkt, und Henderson auch nicht. Normalerweise grinste Hoke wenigstens, wenn Bill einen seiner Witze erzählte, und sagte: »Der ist gut«, selbst wenn es ein aus dem Zusammenhang gerissener Gag aus einem Johnny-Carson-Monolog war, den Bill sich notiert hatte.
  Aber Hoke hatte seit über einer Woche nicht mehr gelächelt, und seit fast einem Monat hatte er über nichts mehr gelacht.
  Hoke schüttete eine großzügige Portion Trauben-Nuß-Müsli in ein Plastiksieb und ließ heißes Wasser aus der Leitung dar- überlaufen, um die Frühstücksflocken so aufzuweichen, daß er sie essen konnte, ohne sich sein Gebiß einzusetzen. Als das Müsli weich genug war, kippte er es in eine Schüssel und goß Magermilch darüber. Dann schnitt er eine Banane hinein und schüttete ein rosarotes Päckchen »Sweet ’n’ Low«-Süßstoff über das Gemisch. Schüssel und Zeitung trug er hinaus in den Florida Room, die Glasveranda an der Rückseite des Hauses.
  Die Veranda hatte nach drei Seiten mit Jalousien versehene Fenster, die offenstanden, und eine heiße, feuchte Brise wehte vom See herein. Der Florida Room blickte auf einen quadratischen, milchig grünen See hinaus, der früher eine Kiesgrube gewesen war. Alle Häuser in diesem Teil von Miami, in Green Lakes, lagen mit der Rückseite zum See, aber nicht alle Hausbesitzer oder Mieter hatten einen Florida Room wie Hoke. Manche hatten Rotholzveranden hinter dem Haus, andere hatten sich mit betonierten Terrassen und Grillplätzen begnügt; doch alle Häuser in Green Lakes waren ursprünglich nach ein und demselben Bauplan errichtet worden. Abgesehen davon, daß sie in verschiedenen Farben gestrichen und wieder gestrichen worden waren und daß hier und da ein Autostellplatz angefügt worden war, gab es wenig erkennbare Unterschiede zwischen ihnen.
  Hoke setzte sich auf einen geflochtenen Terrassenstuhl an den schmiedeeisernen Tisch mit der Glasplatte, und dann fiel ihm auf, daß er keinen Löffel hatte. Er ging noch einmal in die Küche, holte sich einen Löffel, setzte sich wieder an den Tisch und mümmelte langsam sein Trauben-Nuß-Müsli mit den geschnittenen Bananenscheiben, während er den Sportteil las. Ron Fraser, der Baseballcoach der Miami Hurricanes, der die Mannschaft zu ihrem zweiten Sieg in der College World Series in Omaha geführt hatte, erklärte, er werde sich erst in drei oder vier Jahren zur Ruhe setzen oder vielleicht sogar einen neuen Vertrag aushandeln. Es mußte schwierig für einen Sportjournalisten sein, dachte Hoke, täglich etwas Neues zu liefern, wenn es nichts Lohnenswertes zu berichten gab.
Hoke wandte sich dann Doonesbury zu; der Comic machte sich über Palm Beach lustig, weil man dort die Ausweispflicht für Arbeiter einführen wollte, die nicht auf der Insel wohnten. Augenblicklich fühlte Hoke sich von einer unbestimmten Nostalgie überwältigt. Palm Beach lag Singer Island genau gegenüber, und Singer Island war im Moment der Ort, wo Hoke gern sein würde. Nicht in dem riesigen Haus mit vier Schlafzimmern, das sein Vater am Lake-Worth-Küstenkanal besaß, sondern in einem Hotel- oder Motelzimmer mit Blick aufs Meer, wo niemand ihn finden und zwingen könnte, die fünfzehn Tatberichte zu lesen und auch nicht die angehefteten fünfzehn Supplementär-Berichte, die »Supps«, wie sie im Department hießen.
  Hoke schüttelte den Kopf, um ihn klarzubekommen, warf ei- nen Blick auf die Baseballergebnisse und stellte fest, daß die Cubs schon wieder ein Spiel gegen die Mets verloren hatten – bisher das dritte in einer Serie von drei Spielen. Angewidert warf er die Zeitung auf den Tisch. Die Cubs, dachte er, sollten in der Lage sein, die Mets in jedem Spiel zu schlagen. Was zum Teufel war nur los mit ihnen? In jeder Saison das gleiche. Die Cubs lagen mit drei oder vier Spielen vor allen anderen in Führung, und mitten in der Saison schlafften sie plötzlich ab, und dann ging es steil nach unten in die Supps, die Supps, die Supps …
  Die Vorhänge im Hauptschlafzimmer wurden plötzlich zurückgezogen; dahinter stand Ellita Sanchez. Hoke drehte sich ein Stück weit zur Seite und winkte matt mit der rechten Hand. Ellita, noch in ihrem rosa Babydoll, die Schultern von einem Morgenrock aus purpurrotem Satin umhüllt, lächelte breit und winkte zurück. Dann wandte sie sich von der Glasschiebetür ab und watschelte zum Badezimmer, das sie mit Hokes Töchtern Sue Ellen und Aileen teilte – und mit Hoke, wenn er es einmal unbesetzt vorfand.

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Charles Ray Willeford (2.1.1919 – 27.3.1988). Foto: Betsy Willeford

Der Morgen hatte begonnen, ein neuer, brütendheißer, typisch schwüler Junimorgen in Miami. Es war Donnerstag, aber ebensogut hätte es Dienstag oder Freitag sein können. Die Sommertage waren alle gleich, heiß und sengend, mit spät- nachmittäglichen Gewittern, die nichts dazu beitrugen, die Hitze zu lindern, und nur die Schwüle verstärkten. Ellita Sanchez, mittlerweile im achten Monat schwanger und deshalb auf unbestimmte Zeit vom Department beurlaubt, kochte jeden Morgen eine Kanne kubanischen Kaffee und brachte ihn in einer Thermosflasche zu Hoke hinaus. Dann trank sie rasch eine Tasse mit Hoke, bevor sie in die Küche zurückging, zwei Spiegeleier briet und vier Scheiben kubanisches Brot toastete, die sie dann dick mit Margarine bestrich. Der Arzt hatte Ellita geraten, keinen Kaffee mehr zu trinken, bis das Baby auf der Welt sei, aber sie trank das dicke schwarze kubanische Gebräu trotzdem, mindestens eine Tasse und noch öfter zwei.
  »Mein Baby«, erklärte sie Hoke, »wird halb kubanisch sein, und deshalb sehe ich nicht ein, wieso ein oder zwei winzige Täßchen Kaffee ihm schaden sollten, bevor es geboren ist.«
  Den Nachnamen des Vaters kannte Ellita nicht. Sein Vorname war Bruce gewesen; sie hatte ihn für eine Nacht (ihr erstes Abenteuer dieser Art, hatte sie Hoke erzählt) aufgelesen und war gleich schwanger geworden. Bruce, wer immer er sein mochte, wußte nicht, daß er Vater wurde; er hatte wahrscheinlich nie wieder an Ellita gedacht, nachdem er einmal die zwei Stunden mit ihr in seinem Apartment in Coral Gables verbracht hatte. Ein blonder, blauäugiger Versicherungsvertreter, fünfundzwanzig Jahre alt – das war so gut wie alles, was Ellita über Bruce wußte. Das, und daß er drei Zentimeter unter der linken Brustwarze zwei schwarze behaarte Muttermale gehabt hatte. Ellita war zweiunddreißig Jahre alt, und sie hatte sich nicht nur damit abgefunden, ein ungeplantes Baby zu bekommen, sie freute sich sogar darauf. Wenn es ein Junge würde, sollte er Pepe heißen, nach ihrem Onkel, der in einem von Castros Gefängnissen gestorben war; und wenn es ein Mädchen würde, wollte sie es Merita nennen, nach ihrer Tante, Pepes Frau, die immer noch in Kuba lebte. Ellita war es egal, ob es ein Junge oder ein Mädchen wurde, solange das Baby gesund war. Sie hatte gebetet, ihr Kind möge, weder im einen noch im anderen Fall, zwei behaarte Muttermale unter der linken Brustwarze haben, aber sie war bereit, auch das zu akzeptieren, wenn es Gottes Wille wäre.
  Wenn Eier und Toast fertig waren, trug Ellita ihren Teller hinaus zum Glastisch und setzte sich wieder zu Hoke. Mit Messer und Gabel schnitt sie penibel das Weiße rings um das kaum gare Eigelb ab und aß es zuerst. Dann aß sie das Eigelb, schob sich erst das eine, dann das andere in den Mund, ohne daß sie zerflossen. Diesen Teil des Unternehmens konnte Hoke fast nicht mitansehen – wie der flüssige gelbe Dotter zwischen Ellitas kräftigen weißen Zähnen hindurchquoll. Aber er konnte ihr wegen dieser Praxis, dieser abscheulichen Angewohnheit, keine Vorhaltungen machen, denn Ellita bezahlte die Hälfte der Miete und die Hälfte der Nebenkosten für das Haus. Ellita war Hokes Partnerin beim Morddezernat, und sie würde wieder seine aktive Partnerin sein, wenn ihr Mutterschaftsurlaub zu Ende war und sie wieder arbeiten mußte; sie kritisieren oder ihr Ratschläge erteilen konnte Hoke deshalb nur als Polizist. Sein Status als Vorgesetzter erstreckte sich nicht auf zu Hause, auf ihre Tischmanieren oder die Unsitte, mit Ohrringen zu schlafen oder einen Schuß Moschus auf ihr allzu üppig aufgetragenes Shalimar-Parfum zu sprühen.

Hoke schlief nicht mit Ellita; er hatte es noch nie getan, und er würde es auch nicht tun. Sie war eine Ermittlerin, die ihm beim Morddezernat als Juniorpartnerin zugeteilt worden war, und damit hatte sich’s. Aber Hoke brauchte sie daheim, und das nicht nur, weil er die Kosten allein nicht hätte aufbringen können. Ellita war ihm auch eine große Hilfe bei seinen beiden halbwüchsigen Töchtern.
Die Mädchen wohnten jetzt seit sechs Monaten bei Hoke; ihre Mutter hatte sie zu ihm zurückgeschickt, weil sie von Vero Beach, Florida, nach Glendale, Kalifornien, gezogen war, um Curly Peterson zu heiraten, einen schwarzen Reserveschlagmann bei den Dodgers. Sue Ellen, sechzehn, hatte einen Job beim Green Lakes Car Wash, und sie hatte vor, die Schule endgültig aufzugeben, wenn im September die High School wieder anfing, damit sie die monatlichen Raten für ihr neues Puch-Moped weiter zahlen konnte. Aileen, vierzehn, half im Haushalt und hatte in der Nachbarschaft ein paar Babysitterjobs gefunden, aber im Herbst würde sie wieder zur Schule gehen müssen, da sie noch schulpflichtig war. Auch sie hätte gern mit der Schule aufgehört. Beide Mädchen beteten Ellita Sanchez an, und sie ahmten Ellita nach, wenn sie ihre Frühstückseier aßen. Hoke konnte die Mädchen nicht daran hindern, diese abscheuliche Angewohnheit anzunehmen; wenn er etwas zu ihnen sagte, würde Ellita es als indirekte Kritik an ihrer eigenen Person auffassen.
Hoke hatte dieses Dilemma mit Bill Henderson, seinem früheren Partner, erörtert, und Bill hatte gemeint, er könne nichts weiter tun, als allein zu frühstücken, am besten bevor Ellita und die Mädchen morgens aufstanden. Wenn er ihnen nicht dabei zusähe, wie sie ihre Eier aßen, und wenn er versuchte, nicht daran zu denken, würde er es vielleicht mit der Zeit vergessen. Und in der Regel handelte Hoke danach. Er aß sein Trauben-Nuß-Müsli draußen auf der Veranda, und wenn Ellita mit ihrem Teller zu ihm herauskam, goß er sich seinen Kaffee ein, verzog sich damit ins Wohnzimmer und setzte sich in seinen La-Z-Boy-Sessel vor den Fernsehapparat, um sich die Morgennachrichten anzusehen.
  Hoke war es sowieso lieber, vor den Frauen aufzustehen, damit er ins Bad konnte, um zu duschen und sich zu rasieren. Wenn die anderen schon aufgestanden waren, nahm das Warten aufs Bad oft kein Ende. Ein einziges Badezimmer war nicht genug für vier Personen, aber auf diese Weise hatte der Bauunternehmer Geld gespart, als er Mitte der fünfziger Jahre Green Lakes erbaut hatte, und es gab hier mehrere Familien, die viel größer waren als Hokes und die auch sehen mußten, wie sie zurechtkamen.
  Ellita brachte die Thermoskanne mit dem Kaffee und zwei Tassen, eine kleine und eine normal große. Sie schenkte den Kaffee ein – einen großen für Hoke, einen kleinen für sich – und fragte, was es Neues in der Zeitung gebe.
»Ich bin fertig damit.« Hoke zuckte die Achseln. Er trug seine volle Tasse ins Wohnzimmer und setzte sich in seinen La-Z- Boy, aber er schaltete den Fernsehapparat nicht ein.

Als Ellitas Mutterschaftsurlaub zwei Wochen zuvor begonnen hatte, war Hoke von Major Brownley, dem Chef des Mordde- zernats, mitgeteilt worden, daß er sie nicht ersetzen könne. Hoke hatte Ellita und einen jungen Polizisten namens Teodoro Gonzalez (der von den übrigen Detectives in der Division sofort den Spitznamen »Speedy« erhalten hatte) zugeteilt bekommen, um die Akten der »kalten Fälle« zu bearbeiten. Zu Anfang hatte es geheißen, es handele sich um eine befristete Aufgabe, aber die drei hatten ein halbes Dutzend alte Mordfälle so rasch aufgeklärt, daß der Major eine Dauerbeschäftigung daraus gemacht und Hoke die Leitung übertragen hatte. Ohne Ellita und ohne einen Ersatz für sie würde Hoke allein auf Gonzalez angewiesen sein, was die Lauferei betraf. Gonzalez, ein intelligenter junger Polizist, aber ein Mann ohne Orientierungssinn, hatte an der Florida International University in Miami sein Diplom in Wirtschaftswissenschaften gemacht und nur ein Jahr lang als Streifenpolizist in Liberty City gearbeitet, ehe er befördert und zum Morddezernat bei der Kriminalpolizei versetzt worden war. Verdient hatte er sich diese Beförderung im Grunde nicht; er war befördert worden, weil er ein Latino mit einem Diplom war. Der schwarze Sergeant der Streifenpolizei in Liberty City hatte Gonzalez für die Beförderung empfohlen, aber nur aus dem Grund, weil der Sergeant den Mann um jeden Preis hatte loswerden wollen. Trotz Stadtplan im Streifenwagen und obwohl Streets und Avenues in Miami nach einem simplen System angelegt sind (Avenues verlaufen in Nord-Süd- Richtung, Streets in Ost-West-Richtung), hatte Gonzalez die Hälfte seines Streifendienstes damit zugebracht, sich zu verirren, und sich als unfähig erwiesen, die Adressen zu finden, zu denen man ihn geschickt hatte. Gonzalez war willig und umgänglich, und Hoke mochte den Jungen, wußte aber, wenn er ihn mit Lauferei, einer wichtigen Aufgabe bei der Bearbeitung kalter Fälle, beauftragte, würde Gonzalez den größten Teil seiner Zeit damit verbringen, irgendwo in der Stadt umherzuirren. Einmal hatte Gonzalez es nicht einmal geschafft, zum Orange-Bowl-Stadium zu gelangen, obwohl er es von der Schnellstraße hatte sehen können: Er hatte keine Ausfahrt gefunden, die ihn hingeführt hätte.
  Gonzalez hatte jedoch Hokes Steuererklärung vorbereitet, und Hoke hatte dreihundertachtzig Dollar zurückbekommen. Gonzalez hatte auch für Ellita das Formular 1040 ausgefüllt, und sie hatte hundertachtzig Dollar zurückbekommen, obwohl sie damit gerechnet hatte, dreihundertzwanzig nachzahlen zu müssen; seither bewunderten sie beide Gonzalez’ Begabung im Umgang mit Zahlen. Hoke hatte Gonzalez die Verantwortung für Zeitpläne und Fahrtenbücher übertragen, und es gab nie mehr Probleme bei der Spesenabrechnung. Hoke wußte jedoch nicht so recht, was er darüber hinaus mit Gonzalez und den fünfzehn neuen Supps anfangen sollte, die am Tag zuvor in sein Eingangsfach gelegt worden waren.
  Diese Supps stellten allesamt neue kalte Fälle dar, die nach Hokes Meinung noch zu warm waren, als daß man sie als inaktiv hätte bezeichnen können. In Wirklichkeit waren es einfach schwierige Fälle, die andere Detectives im Dezernat für hoff- nungslos hielten. Aber sie waren noch viel zu frisch, um hoff- nungslos zu sein, hatte Hoke festgestellt, als er sie am Nachmittag zuvor durchgeblättert hatte. Hoke bekam die Akten mit der Hauspost, denn Major Brownley hatte eine Notiz ans Schwarze Brett gehängt und die Detectives der Division angewiesen, die kalten Fälle, die sie gegenwärtig bearbeiteten, an Sergeant Moseley weiterzuleiten. Diese neuen Fälle, die zu den zehn hinzukamen, die Hoke aus den alten Akten zur Bearbeitung ausgewählt hatte, weil sie noch Möglichkeiten bargen, waren nach Hokes Auffassung nicht hoffnungslos. Selbst beim Überfliegen der neuen Supps hatte er den Eindruck gewonnen, daß die Detectives viel intensiver daran hätten arbeiten können, bevor sie ihm die Akten aufhalsten. Worauf es tatsächlich hinauslief, folgerte Hoke, war, daß diese faulen Hunde eine Möglichkeit gefunden hatten, ihre Schreibtische aufzuräumen und schwierige Ermittlungen an ihn und Gonzalez abzuschieben. Alle fünfzehn Supps hatten gelbe Reiter auf den Aktendeckeln, was bedeutete, daß diese Verbrechen nicht verjährten, weil es sich um Mord-, Vergewaltigungs- oder Vermißtenfälle handelte. Hoke begriff, daß sein Schreibtisch der neue Abladeplatz für mehr und mehr Fälle solcher Detectives sein würde, denen die üblichen Spuren ausgegangen waren und die jetzt vor der undankbaren Aufgabe standen, über neue, nichtroutinemäßige Aspekte nachzudenken. Es war damit zu rechnen, dachte er finster, während er seinen Kaffee austrank und die Tasse auf den Zeitungstisch neben seinem La-Z-Boy stellte, daß noch mehr von der Sorte in seinem Eingangsfach lagen, wenn er in sein winziges Büro im zweiten Stock des Reviers Miami kam.
  Hoke hörte auf, über diese neue Einsicht nachzudenken. Dann hörte er überhaupt auf zu denken, schloß die Augen und lehnte sich im Sessel zurück.

Auszug mit freundlicher Genehmigung des Verlages aus:

Charles Willeford: Seitenhieb. Der dritte Hoke-Moseley-Fall (Sideswipe, 1987). Deutsch von Rainer Schmidt. Mit einem Vorwort von Elmore Leonard, durchgesehen und mit einem Nachwort von Jochen Stremmel. Alexander Verlag, Berlin 2016. Verlagsinformationen.

Charles Willeford hätte am 2. Januar 2019 seinen hundertsten Geburtstag gefeiert. Für uns ein Anlaß, seine Witwe Betsy herzlich zu grüßen und ihn einfach am besten selbst erzählen zu lassen. Sie lesen hier den Anfang des ersten Kapitels von „Seitenhieb“, dem dritten Hoke-Moseley-Fall.
Hoke hat seine Frühstücksrituale. Dieses Mal aber steht er nicht mehr so schnell aus seinem Sessel auf. Er hat einen Zusammenbruch. Klarer Fall von Burn-out, erkennt sein Freund und Kollege Commander Bill Henderson, und er handelt schnell: »Ein Besuch beim Polizeipsychiater ist zwar angeblich vertraulich, aber früher oder später kommt es immer raus. Diese Geschichte mit Hoke wird bald vorbei sein, das weiß ich, und wenn wir ihn für ein paar Tage aus der Stadt schaffen können, wird kein Mensch je einen verdammten Unterschied merken.«
  »Was soll ich den Mädchen sagen?«, fragt Ellita.
  »Sagen Sie ihnen, Hoke macht Urlaub. Ich rufe Mr. Moseley von Ihrem Apparat aus an, wenn ich gegessen habe – die Suppe ist übrigens gut mit diesem Zeug –, und Sie können Hoke heute nachmittag hinauffahren. Sie können doch noch fahren, oder?«    Bill sah auf seine Armbanduhr. »Es ist Viertel nach eins. Falls jemand Sie fragt: Hoke hat seit acht Uhr heute morgen offiziell dreißig Tage Urlaub.«
  So hatte es Hoke zwar nicht geplant, aber auf diese Weise kam er nach Singer Island zurück.

Im Alexander Verlag gibt es alle vier Hoke-Moseley-Romane und weitere Bücher von Charles Willeford in neu durchgesehenen Ausgaben, je mit Nachworten versehen. 
Weitere Willeford-Romane bei Pulpmaster.

Siehe auch exklusiv bei CrimeMag, März 2015: James Lee Burke über Willeford: Was für ein Mann!
Charles Willeford bei CrimeMag.
CrimeMag-Klassikercheck für „Miami Blues“: Nele Hoffmann, Jochim Feldmann, Marcus Müntefering, Thomas Wörtche und Alf Mayer.

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